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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 357
Entgegen dieser Aussage wurde er sehr wohl in die „unerquickliche[n] Dinge
gezerrt“, denn auf seinen Aufruf an die Dresdner Einwohnerschaft reagierten die
Künstler George Grosz „und seine Gruppe“ mit einem Schmähartikel gegen ihn.
Der Text, von Kokoschka in der Autobiographie nicht ganz korrekt als „Die Kuns-
thure Oskar Kokoschka“ bezeichnet,155 trug den Titel „Der Kunstlump“. Er war von
George Grosz und John Heartfield verfasst und in Heartfields politischer Zeitschrift
„Der Gegner“ im Frühjahr 1920 veröffentlicht worden.156
Die durch diesen Artikel entfachte „Kunstlump-Debatte“ ist insofern interessant,
als sie sehr grundsätzlich die Funktion der Kunst und die politische Verantwortung
des Künstlers thematisiert. Grosz und Heartfield, den Kokoschka in seiner Auto-
biographie als Mitautor des Artikels interessanterweise nicht erwähnte,157 ließen
Kokoschka in ihrer Attacke zur Symbolfigur eines bürgerlichen Kunstverständnis-
ses werden. Dieses verstecke sich snobistisch hinter scheinbar idealen und zeitlosen
Werten von Kunst und Kultur und begegne den politisch-alltäglichen Problemen
der Arbeiterschaft mit Ignoranz: „Kokoschkas Äußerungen sind ein typischer Aus-
druck der Gesinnung des gesamten Bürgertums. Das Bürgertum stellt seine Kul-
tur und seine Kunst höher als das Leben der Arbeiterklasse.“158 Kokoschka wurde
vorgeworfen, in seinem Aufruf an die Einwohnerschaft von Dresden die Zerstö-
rung eines Bildes beklagt zu haben, während gleichzeitig viele Menschen ihr Leben
verloren. Im Gegensatz dazu formulierten Grosz und Heartfield polemisch: „Wir
begrüßen mit Freude, daß die Kugeln in Galerien und Paläste, in die Meisterbilder
der Rubens sausen, statt in die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln!“ Die be-
stehende Vorstellung von Kunst und Künstlertum sei zutiefst bourgeois und immer
auf der Seite der Herrschenden:
155 Kokoschka, Mein Leben, 175.
156 John Heartfield/George Grosz, Der Kunstlump (1920), hier zit. nach John Heartfield (Hg.), Der
Schnitt entlang der Zeit. Selbstzeugnisse. Erinnerungen. Interpretationen. Hg. von Roland März,
104–112.
157 John Heartfield (1891–1968), ursprünglich Helmut Herzfeld, deutscher Maler, Graphiker, Foto-
monteur und Protagonist der Dada-Bewegung. Möglicherweise war in Kokoschkas Erinnerung die
„Kunstlump-Episode“ tatsächlich nur mehr auf Grosz fokussiert, vielleicht liegt die Nichterwäh-
nung aber auch daran, dass Heartfield und Kokoschka sowohl im Prager wie auch im Londoner
Exil positive Begegnungen miteinander hatten. So war Heartfield Mitglied im Prager Exilverein des
„Oskar-Kokoschka-Bundes“, beide erhielten eine Ehrung des tschechischen Kunstvereins Mánes,
in London trafen sie einander über den „Kulturbund“. Vgl. dazu u.a. Heartfield (Hg.), 331 ff sowie
Gloria Sultano, „Artist in Exile“ – Streiflichter aus dem Exil, in: Gloria Sultano/Patrick Werkner
(Hg.), Oskar Kokoschka. Kunst und Politik 1937–1950, Wien 2003, 119–158, 137 u. 147.
158 Heartfield/Grosz, Kunstlump, 111.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463