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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus372
Idealisierung ihrer neuen Lebenssituation noch nicht aufgeben. Der Ton der Briefe
an die Mutter änderte sich jedoch diesbezüglich bald, immer häufiger berichtete sie
über die Härte ihres Berufslebens und die ökonomischen Herausforderungen.
Über ein unmittelbar politisches Engagement Kliens vor ihrer Emigration ist
nichts bekannt. Die Čižek-Schule, aus der sie hervorging, beschäftigte sich in den
1920er-Jahren zweifellos mit dezidiert sozialkritischen Themen. Unter den politisch
engagierten KünstlerInnen der österreichischen Zwischenkriegszeit waren generell
viele AbsolventInnen der Kunstgewerbeschule, wie Margarete Schütte-Lihotzky,
Otto Rudolf Schatz, Friedl Dicker, um nur einige zu nennen. In New York lebte
Klien in einem multiethnischen Milieu, für das sie großes Interesse zeigte. Sie un-
terrichtete jüdische SchülerInnen ebenso wie afroamerikanische, und interessierte
sich für die Kunst der Native Americans. Ein Naheverhältnis zu nationalsozialis-
tischer Ideologie kann wohl ausgeschlossen werden, wenngleich sich dafür keine
dezidierten schriftlichen Belege anführen lassen. 1938, im Jahr des „Anschlusses“
Österreichs an das Deutsche Reich, nahm Klien die US-Staatsbürgerschaft an. Schon
Jahre zuvor hatte sie darum angesucht, nicht zuletzt wegen der dadurch erleichter-
ten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen.194 So gesehen führte nicht unmittel-
bar der „Anschluss“ Österreichs im selben Jahr zu diesem Schritt, möglicherweise
festigte die politische Entwicklung in Österreich und Europa aber die Entscheidung.
„Anschluss“ und Beginn des Zweiten Weltkriegs sind in den erhaltenen Briefen an
die Familie nicht thematisiert, die Briefe von 1940 und 1941 unterscheiden sich le-
diglich dadurch, dass der Inhalt von Lebensmittelpaketen, die sie nach Österreich
schickt, angeführt wird. Der letzte erhaltene Brief von Klien an ihre Familie in Wien
ist datiert mit 16. Jänner 1941. Der Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 ver-
hinderte eine weitere Korrespondenz.
1945 nahm die Künstlerin Kontakt mit ihrem mittlerweile (fast) erwachsenen
Sohn in Österreich auf – um ihm und seiner Pflegefamilie Care-Pakete zu schicken.
Es entwickelte sich daraus eine Korrespondenz, die bis zum Tod der Künstlerin an-
hielt. Aktuelle politische Fragen wurden auch hier nicht thematisiert, Grundsätzli-
ches über Vorstellungen von Gesellschaft und Demokratie, durchaus in Verbindung
mit dem Dasein als Künstler/Künstlerin, aber sehr wohl. Mit Fragen von Demokra-
tie und gesellschaftlichem Engagement (umgesetzt in ihrer kunstpädagogischen Ar-
beit, auch und vor allem mit sozial benachteiligten Kindern) setzte sich Klien stets
auseinander. 1948 schrieb sie ihrem Sohn Walter einen bemerkenswerten Brief, der
viel über ihr Verständnis der gesellschaftlichen Rolle des künstlerischen Menschen
aussagt und auch Auskunft über ihr demokratisches Verständnis gibt:
194 Vgl. Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Bertha Klien, 14.5.1932; EGK an Anna Klien, 17.10.1938.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463