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4.4 Nationalsozialismus | 407
vernahmen. Nicht nur die Vorstellung des „überparteilichen“ Künstlers, auch andere
Künstlerstereotype finden sich in Wachs weiteren Überlegungen:
„Die wahren Künstler sind die lebenden Propheten von Volk und Land, ihr Schaffen ist
der Seismograph für das innere Leben des Volkes, gibt ganz klare Auskunft über die Ver-
änderungen der Volksseele. Wahrhafte Künstler sind durch ihr Gemüt gleichgeschaltet
mit den Emanationen der Volksseele, die die Summe der Empfindungen und der Gefühle
aller ist. […] Aus den Werken der Kunst ist die zukünftige Entwicklung der Volkssee-
len zu ersehen. Der Zusammenbruch des europäischen Geistes, seine Zersetzung, war
viele Jahre vor dem Kriege in der bildlichen Kunst vorauskonstatiert. Manche Künstler
sammeln die Emanationen ihrer Stammverwandten wie eine Linse die Sonnenstrahlen
und sie werden das unmissverständliche Sprachrohr ihres Volkes und ihrer Landschaft
(siehe Egger Lienz). Man kann nicht sagen, er sei das Produkt seiner Gegend und ihrer
Menschen: das Phänomen entsteht aus einer gegenseitigen Wechselwirkung der gleich
gestimmten, unbewussten Gemütssphären. Gleiches reagiert und beeinflusst das Gleiche.
So repräsentiert meistens ein Künstler einen Teilaspekt seines Volkes. Nur die ganz großen
sind Repräsentanten der Seelensumme ihrer Volkszeitgenossen: sie erheben das Sehnen
und die Hoffnungen und das Leid in die Sphäre des göttlich-Erhabenen.“292
Wach transportiert hier zahlreiche Künstlermythen, darunter die Vorstellung vom
Künstler als „Seismographen“, in der Tradition einer weit zurückreichenden Vor-
stellung vom Künstler als Propheten.293 Die Rolle des Propheten übernahm Wach in
seinem nächsten Tagebucheintrag gleich selbst:
292 Aloys Wach, Tagebuchblätter seit 1933, Eintrag 18.2.1934. Unterstreichung im Original.
293 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Sigrid Schade, Zur Metapher vom ‚Künstler als Seismograph‘,
in: Sabine Fastert/Alexis Joachimides/Verena Krieger (Hg.), Die Wiederkehr des Künstlers. The-
men und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln, Weimar, Wien 2011, 131–145.
Schade gibt zu bedenken, dass das gängige Bild des „Seismographen“ als Metapher eigentlich nicht
zutreffend sei, da das technische Gerät Seismograph Bewegungen/Erschütterungen zwar auf-
zeichne, aber nicht vorhersage, wie es in der metaphorischen Verwendung aber offenbar gemeint
sei. Schade formuliert weiters, und dies scheint sich mit Wachs Selbstverständnis weitgehend zu
treffen: „Das Konzept vom Künstler als Seismograph ist eine moderne Reformulierung der Tra-
dition des Künstlers als Prophet und/oder Zeuge. Die Metapher, die sowohl von Künstlern selbst
wie von Kunstkritikern seit dem späten 19. Jahrhundert verwendet wird, schreibt der Person des
Künstlers eine spezifische Sensibilität zu, die (gesellschaftliche) Spannungen früher sichtbar mache
als andere Personen oder diese geradezu voraussehe. In diesem Sinne versteht sich der Künstler
gewissermaßen selbst als Medium. Innerhalb des Konzeptes scheint der Künstler seine privilegierte
Position zu behalten, da ihm dadurch außergewöhnliche Sensibilität zugeschrieben wird.“ Ebd.,
143.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463