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Einleitung26
Tatsächlich konnte sich das reformatorische Gedankengut im innerösterreichischen
Raum kaum irgendwo so nachhaltig durchsetzen wie in Kärnten. Der Widerstand,
den viele Kärntner und Kärntnerinnen in den darauffolgenden Jahrzehnten und so-
gar Jahrhunderten gegen die katholische Gegenreformation gezeigt haben, scheint
ein wesentlicher Mosaikstein für die Ausprägung jener mentalitätsgeschichtlichen
Struktur zu sein, die auch in Zusammenhang mit den von Hellwig Valentin be-
nannten politischen Sonderfällen steht : Die Stärke des politisch rechten Lagers, die
ihren zeitgeschichtlichen Ausdruck einerseits in der überaus deutlichen Hinwen-
dung der Kärntner Bevölkerung zum Nationalsozialismus fand und sich anderer-
seits, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der zurückhaltenden Entnazifizierung der
etablierten Großparteien sowie in der Stärke der Freiheitlichen Partei Österreichs
widerspiegelt.54 Bereits in den 1950er Jahren haben Historiker auf einen Zusam-
menhang zwischen den Hauptwiderstandsgebieten des Juliputsches 1934 und den
Zentren des Geheimprotestantismus hingewiesen.55 Was zunächst für Oberös-
terreich gezeigt werden konnte, hat Hubert Gamsjäger in den 1980er Jahren für
Kärnten in ähnlicher Weise empirisch bestätigt : Die Neigung zum politisch rech-
ten Lager ist in Kärntner Gemeinden mit einem hohen Anteil an Personen mit
evangelischem Bekenntnis besonders stark ausgeprägt.56 Gamsjäger führt dazu aus :
»Dieser Schluß hat aber nur für das Bundesland Kärnten seine Richtigkeit, weniger
signifikant ist dieses Wahlverhalten für die Toleranzgemeinden der Steiermark und
für die oberösterreichischen Toleranzgemeinden stimmt er keinesfalls.«57 Diese
Feststellung berechtigt in weiterer Folge auch zu der wichtigen Bemerkung, dass
nicht das evangelische Bekenntnis in seiner konkreten kirchlich-konfessionellen
Ausgestaltung ausschlaggebend für diesen Zusammenhang ist, sondern die damit
verbundenen Haltungen und historischen Erfahrungen, die den Widerstand und
das Misstrauen gegen eine als unterdrückend empfundene Obrigkeit – repräsen-
tiert etwa durch staatliche und kirchliche Behörden – verinnerlicht haben. Diese im
nicht konfessionellen Sinn verstandene »protestantische« Haltung wird in der vor-
54 Vgl. Elste, A./Hänisch, D.: Kontinuität (1998).
55 Schwarz, K. W.: Konfrontation (2005), 266. Selbst der ehemalige freiheitliche Kärntner Landeshaupt-
mann Jörg Haider (1950–2008), als erster FPÖ-Landeshauptmann in Österreich selbst ein politischer
»Sonderfall«, soll einmal in einem Interview auf den Zusammenhang von Religionsbekenntnis und
Wahlverhalten hingewiesen haben : »Die Freiheitlichen sind überall dort stark, wo es viele protestan-
tische Wähler gibt, die besonders freiheitsliebend sind.« Jörg Haider zit. bei Gamsjäger, H.: Zusam-
menhänge (1986), 16.
56 Ebd. Gamsjäger hat elf Kärntner Gemeinden mit dem höchsten Anteil an Evangelischen untersucht
und das Wahlverhalten ihrer Bürger und Bürgerinnen bei den NR-Wahlen 1956 bis 1983 sowie bei
den Bundespräsidentenwahlen 1952 und 1980 näher analysiert und eine signifikant hohe Neigung zur
Wahl der FPÖ in diesen Gemeinden bestätigt.
57 Ebd.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353