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Einleitung38
logischer Sicht muss aber festgehalten werden, dass »[m]ehr oder weniger fluktu-
ierende Machtbalancen ein integrales Element aller menschlichen Beziehungen«98
bilden.
Wenn nun im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Machtposition der Kir-
che in vergangenen Jahrhunderten Kirche als »Herrschaftskirche« und nicht als
»Volkskirche« erlebt wurde,99 sollte noch der Begriff der Herrschaft erörtert wer-
den. Herrschaft, wiederum nach Max Webers klassischer Definition verstanden als
»Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam
zu finden«100, bedarf der Anerkennung ihrer Legitimität durch die Beherrschten, um
sich dauerhaft zu stabilisieren. Im Anschluss an Webers Herrschaftstypologie101 hat
der Soziologe Christian Dorner-Hörig für Kärnten den Typus des »ständischen Pa-
trimonialismus« herausgearbeitet. »Das ist dann der Fall, wenn sich eine Reihe von
Privilegierten das Monopol zur Schaffung und Besetzung öffentlicher Ämter und
damit von Macht innerhalb eines Herrschaftsraumes sichern können [sic !].«102 Dies
habe in Kärnten auf der Grundlage eines strukturimmanenten Nepotismus inner-
halb der ständischen Eliten zu einem außergewöhnlichen Machtvorteil gegenüber
der Zentralherrschaft geführt. »Hier ruht einer der zentralen Unterschiede zu ande-
ren Gebieten der Monarchie. Der ständische Patrimonialismus in Kärnten erlaubte
es den regionalen Herrschern in weit höherem und zeitlich längerem Ausmaß[,] ih-
ren direkten Zugriff auf die heimische Bevölkerung gegen die beginnenden gleichar-
tigen Bestrebungen der Zentralmacht ab dem 17. Jahrhundert zu sichern.«103 Für die
vorliegende Arbeit wird zu untersuchen sein, welche Rolle der katholischen Kirche
in diesem System zukommt bzw. zukam.
Zweifellos hat der vorgestellte soziologische Ansatz für die Ansprüche der klas-
sischen (Kirchen-)Geschichtsschreibung auch Schwächen, die nicht wegzuleugnen
sind. So wurde an Elias vielfach Kritik bezüglich seines Umgangs mit historischen
Quellen geäußert, die der vielfältigen Quellenlage nicht gerecht würden und einsei-
tig seien.104 Demgegenüber ist aber auch im Hinblick auf die vorliegende Untersu-
98 Elias, N.: Was ist Soziologie ? (1971), 76 f. So hat auch der geringste Sklave ein gewisses Maß an
Macht über seinen Herrn, sei dieses Ungleichgewicht auch noch so groß ; ebenso hat auch das schein-
bar hilflose Kleinkind oder Neugeborene Macht über seine Mutter – in beiden Fällen ist voraus-
gesetzt, dass sowohl der Herr mit seinem Sklaven als auch die Mutter mit ihrem Neugeborenen
irgendeine Form von Interesse verbindet. Ebd.
99 Höllinger, F.: Volksreligion und Herrschaftskirche (1996).
100 Weber, M.: Soziologische Grundbegriffe (2002), 711 ; Weber, M.: Herrschaft (2002), 717.
101 Ebd.
102 Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014), 124.
103 Ebd., 124 f.
104 Vgl. Duindam, J.: Norbert Elias (1998) ; Duerr, H. P.: Der Mythos (1988–2002) und die Reaktion
darauf bei Schröter, M.: Scham (1990).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353