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Einleitung46
von Familienverbänden und sogar die gewaltsame Kindesabnahme.144 Im kollektiven
Gedächtnis haben sich diese Erfahrungen tief eingegraben, sie wurden aber nicht
»vergessen«, sondern verdrängt. Wie noch zu zeigen sein wird, trat das latente Res-
sentiment gegen Staat und Kirche in der Folgezeit in Schüben hervor. Im nationalen
Zeitalter war es die Ablehnung des habsburgischen Vielvölkerstaates und die Identi-
fizierung der katholischen Kirche mit dem Slawentum vonseiten des Deutschnatio-
nalismus, wie sie sich vor allem an der »Los-von-Rom-Bewegung« beobachten lässt.
In der Zwischenkriegszeit war es schließlich der Ständestaat, der jene Konstellation
wiederherstellte. Nun war es der Nationalsozialismus, der sich als Widerstandsbewe-
gung verstand und »die Massen in ihren Bann« zwang.
Assmann nennt zwei Techniken »kulturellen Vergessens«, die den Prozess der
Verdrängung unterstützen. »Die einfachste und verbreitetste Technik des Verges-
sens ist die Vernichtung des Gedächtnisses in seinen kulturellen Objektivationen
wie Inschriften, bildlichen Darstellungen, Bauwerken usw.« Dieses Phänomen war
in Kärnten bereits zu Beginn der Rekatholisierungsphase zu beobachten. Von der
durchziehenden Religionsreformationskommission wurden Kirchen und Bethäuser
zerstört und protestantische Friedhöfe geschändet oder verwüstet. Zu dieser Form
materieller Gedächtnisvernichtung muss aber wohl auch die Deportation gezählt
werden : Sie ist das Wegschaffen der erinnernden Subjekte selbst.
Die zweite von Assmann genannte Technik des Vergessens ist jene der »normati-
ven Inversion«. »Hier wird das Verworfene weder verdrängt noch totgeschwiegen,
sondern im Gegenteil sorgfältig in Erinnerung gehalten : nicht um seiner selbst wil-
len, aber als Gegenbild des eigenen Selbstbildes. […] Normative Inversion hält ein
Bild des Anderen lebendig, weil es für die eigene kontradistinktive Selbstdefinition
gebraucht wird. Man versteht nur, wer man ist, wenn man weiß, gegen wen man sich
abgrenzt und was man hinter sich gelassen hat.«145
Was Assmann in Moses der Ägypter anhand von außerbiblischen Berichten über die
Exodusgeschichte und deren Rezeption in der europäischen Aufklärung illustriert,
begegnet uns in Kärnten, wie noch gezeigt werden wird, mehrfach : im Gegenbild
der slawischen Eindringlinge, der wilden türkischen Horden, der französischen Un-
holde und schließlich in den dämonisierten jugoslawischen SHS- bzw. Partisanen-
truppen.
Nun bleibt noch zu klären, wie man sich die Weitergabe kollektiver Traumata
vorzustellen hat. Anders als bei der Objektivierung von Erinnerung im kulturellen
144 Sehr ausführlich mit den Deportationspraktiken innerhalb der Habsburgermonarchie auseinander-
gesetzt hat sich Stephan Steiner in Steiner, S.: Reisen ohne Wiederkehr (2007) und Steiner, S.: Rück-
kehr unerwünscht (2014) ; vgl. auch Steiner, S.: Transmigration (2009) und Steiner, S.: Deportations-
politik (2011).
145 Assmann, J.: Moses (2007), 279.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353