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Einleitung48
Anzeichen der Wiederkehr eines kollektiv eingegrabenen Traumas werden im
zweiten Hauptteil dieses Buches, im Kapitel über die Zeit des »Christlichen Stände-
staates« deutlich werden. Es ist gut möglich, dass verschüttete Erinnerungen an die
Zeit des konfessionellen Absolutismus und seine traumatisierenden Begleiterschei-
nungen – Zwangsbekehrung, Denunziation, Kindesabnahme, Deportation, Zerstö-
rung oder Rekatholisierung von protestantischen Kultstätten – im kollektiven Ge-
dächtnis wieder an die Oberfläche gelangt waren und die Ablehnung des Regimes
verstärkt haben. Es ist kein Zufall, so die These, dass ausgerechnet in dieser Zeit
der politischen Polarisierung und der Rückkehr des kirchlichen Gewissenszwangs in
das Privatleben der Individuen die »archäologischen Grabungsarbeiten« aufgenom-
men werden : Der evangelische Kirchenhistoriker Paul Dedic beschäftigte sich in
pionierartiger Weise in den 1930er Jahren mit der Zeit des Geheimprotestantismus
und der Exulantenschicksale in Kärnten,150 ein volkskundliches Buch verschriftlichte
die Erinnerungen des evangelischen Volksschullehrers Michael Unterlercher an die
familiär tradierten Erzählungen aus der Zeit des Geheimprotestantismus,151 und die
deutsche [!] Autorin Emilie Zenneck verfasste einen Roman über ihre Vorfahren
in Kärnten,152 die in der Zeit der Gegenreformation auswandern oder sich bekeh-
ren mussten. Die Zeit der Gegenreformation wurde zum »Mythos«,153 insofern sie
ein Identitätsbaustein derer wurde, die dem autoritären Regime wenig abgewinnen
konnten. Und es scheint auch kein Zufall zu sein, dass derer besonders in Kärnten
viele waren.
Bemerkenswert ist nun, dass im offiziellen, also politisch gepflegten, kulturellen
Gedächtnis Kärntens – vom Fürstenstein über die »Türkenplage« bis hin zu Ab-
wehrkampf und Partisanenbedrohung – beiden Epochen, Gegenreformation und
Ständestaat, kaum Platz eingeräumt wird.154
sierte Mütter in der Schwangerschaft erhöhte Stressreaktionsmuster an ihre Kinder über Hormo-
nausschüttungen weitergeben. Dieluweit, U./Goldbeck, L.: Trauma (2011), 16 ; Bauer, J.: Das Ge-
dächtnis (2011), 22 f und 48 f.
150 Vgl. dazu nur einige Arbeiten aus dieser Zeit : Dedic, P.: Kärntner Protestantismus (1937) ; Dedic,
P.: Bauernschicksale (1938) ; Dedic, P.: Kärntner Protestantismus (1938) ; Dedic, P.: Besitz und Be-
schaffung (1939) ; Dedic, P.: Die Einschmuggelung (1939) ; Dedic, P.: Der Geheimprotestantismus
(1940) sowie die insgesamt acht Teile umfassende Aufsatzserie, die nach dem Krieg in der Zeitschrift
Carinthia I erschien : Dedic, P.: Kärntner Exulanten (1948–1964).
151 Unterlercher, M.: In der Einschicht (1975).
152 Zenneck, E.: Glaubensstreiter (1946).
153 Blaschke, O.: Der »Dämon« (2002), 35.
154 In den letzten Jahren sind diese Epochen in Kärnten auf Initiative der evangelischen Kirche und auf
der Grundlage des kirchengeschichtlichen Interesses von Bischof Oskar Sakrausky (1914–2006) mit
der Schaffung des »Toleranzzentrums Fresach« und seines regen Ausstellungsbetriebes einer breite-
ren Öffentlichkeit vermittelt worden. Vgl. dazu die beiden Ausstellungskataloge Hanisch-Wolfram,
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353