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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten66
Erzbistums konnten die Machtposition der Gurker Bischöfe gegenüber Salzburg zu-
nächst jedoch nicht entscheidend verbessern. Die Gründung der Bistümer Chiemsee
(1216), Seckau (1218) und Lavant (1228) müssen in diesem Kontext als Gegenmaß-
nahme des Erzbischofs gesehen werden, einerseits um die kirchenrechtlich einma-
lige Stellung Gurks zu relativieren und andererseits um den Zuständigkeitsbereich
des Gurker Bischofs weiter zu schmälern.44
Parallel zu diesen (kirchen-)politischen Entwicklungslinien auf der Makroebene
verlaufen bedeutende sozialgeschichtliche Prozesse auf der Mikroebene. Das Bevöl-
kerungswachstum im ausgehenden Hochmittelalter, die Entstehung der Städte und
damit die voranschreitende soziale Ausdifferenzierung stehen im unmittelbaren Zu-
sammenhang mit den gestiegenen Anforderungen an die Kontrolle des persönlichen
Triebhaushaltes und die Dämpfung der Affekte. Diese Anforderungen spiegeln sich
in den gesteigerten Kontroll- und Disziplinierungsbemühungen der Amtskirche ab
dem 12. Jahrhundert wider. Sie zielten zunächst auf die geistliche Elite, die in nun
errichteten Kollegiatstiften45 vor einem unstandesgemäßen Leben stärker geschützt
werden und zugleich die Seelsorge intensiver betreiben sollte. Im sukzessive auf-
gewerteten Amt des Archidiakons46 sollte außerdem eine Aufsichtsinstanz zwischen
Bischof und Pfarrer diese Funktion erfüllen. Diese Entwicklungen sind Ausdruck
zunehmender Verflechtungszwänge, die sich in teils heftigen Konflikten von Klerus
und Bevölkerung äußerten. So lassen sich über die Unterlagen zur 1267 in Wien
abgehaltenen Synode der Kirchenprovinz Salzburg einige indirekte Rückschlüsse
auf die Probleme der Kirche mit der Bevölkerung im Raum Kärnten und darüber
Kanonikern als weltlichen Grundherren gehörten. 1144 bekam Gurk schließlich auch den Zehent für
seine Besitzungen zugesprochen. Tropper, P. G.: Missionsgebiet (1996), 55.
44 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 280–282.
45 In Kärnten wurden im 13. Jahrhundert eine Reihe von Kollegiatstiften errichtet, von Salzburger Ini-
tiative aus in Friesach, ebenso in St. Andrä im Lavanttal, in St. Ruprecht bei Völkermarkt, in Gurnitz
und in Unterdrauburg, von Bamberg ausgehend wurde das Prämonstratenserstift Griffen gegründet.
Kollegiatstifte wurden auch noch später errichtet, wie jenes in Paternion (dessen Existenz zwischen
1296 und 1340 auf Vermutungen basiert), in St. Nikolai in Straßburg, außerdem die Propstei in Kraig.
Tropper, C./Frankl, K. H.: Vom Hochmittelalter (2003), 15 ; Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984),
267 f.
46 Der Archidiakon entwickelte sich vom Gehilfen bei (erz-)bischöflichen Visitationsreisen zur Zwi-
scheninstanz zwischen Bischof und Pfarrer und war im Grunde Stellvertreter des häufig abwesenden
Bischofs. Er fungierte als geistlicher Richter in eigenen Jurisdiktionsbezirken und übernahm die Auf-
sicht über den Klerus, konnte Pfarren visitieren, Pfarrer in ihr Amt einsetzen und auch ihres Am-
tes entheben sowie über Missstände und Vergehen derselben richten. Darüber hinaus oblag ihm die
Ehe- und Strafgerichtsbarkeit in bestimmten Belangen. Nicht zuletzt aufgrund dieser umfangreichen
Befugnisse versuchten vor allem die Klöster, das Archidiakonatsamt in den ihnen angegliederten Pfar-
ren selbst auszuüben, manchmal auch widerrechtlich. Erst mit dem Tridentinum wurde das Amt des
Archidiakons stark abgewertet, wodurch es langsam verschwand. Ebd., 276 ; Tropper, P. G.: Missions-
gebiet (1996), 56 ; Tropper, C./Frankl, K. H.: Vom Hochmittelalter (2003), 6.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353