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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten90
sondern auch kriminalisiert.150 Gotteslästerung wurde mit schweren Strafen belegt,
die von Züchtigung über Zungenabschneiden oder Handabhacken bis hin zur Ent-
hauptung reichen konnten.151
Die Kirchen wurden in diesem Prozess als Konfessionalisierungs- und Diszipli-
nierungsagenturen in Anspruch genommen. Seinen Beginn hat dieser Prozess im
Augsburger Religionsfrieden. Schrittweise wurde die Verwaltungs- und Rechtsstruk-
tur der Kirche unter staatliche Oberaufsicht gestellt, womit der Staat seinen Akti-
onsradius ausweiten und über die Regulierung des Erziehungswesens, der Familien-
und Ehepolitik sowie wohlfahrtsstaatlicher Angelegenheiten bis ins Privatleben der
Untertanen vordringen konnte.152
Somit war der konfessionelle Absolutismus bedacht auf eine Instrumentalisierung
und Kontrolle der Kirche. Päpstliche Schreiben wurden vor ihrer Veröffentlichung
von weltlichen Behörden ebenso überprüft wie solche von auswärtigen Ordinarien,
wie es für Kärnten das Patriarchat von Aquileia oder das Erzbistum Salzburg waren.
Kleriker mussten religionsrelevante staatliche Gesetze von der Kanzel verkünden
und die Untertanen bei der Einhaltung dieser kontrollieren – nicht nur hinsicht-
lich der Sittenzucht, sondern auch im Hinblick auf Steuerhinterziehung und andere
strafrechtlich relevante Delikte. Man griff auch in die kirchliche Personalpolitik
ein, indem man Ausbildungsstandards für den Klerus normierte. Kleriker waren
aus verwaltungstechnischen Interessen zur Protokoll- und Matrikenführung ver-
pflichtet. Die Macht der Klöster sollte durch die Beschränkung der Mönchszahl
(was auch wirtschaftspolitische Gründe hatte) beschnitten werden, die Wahl von
Äbten und Äbtissinnen nur mit landesfürstlicher Zustimmung ermöglicht werden.
Darüber hinaus begann der Staat, das Leben des Kirchenvolks bis in den Privatbe-
reich hinein zu normieren, man regelte sogar Trauerzeiten und Trauerkleidung bei
Begräbnissen.153
Viele dieser sozialdisziplinierenden Forderungen wurden von den Kirchenzucht-
ordnungen evangelischer Adeliger übernommen. »Bestimmungen über den Kir-
chenbesuch der Untertanen, das Verhalten in der Kirche, die Sperre der Wirtshäuser
bzw. das Verbot des Alkoholausschanks zur Gottesdienstzeit und der Lebenswandel
der Pastoren sowie Verbote von Gotteslästerung und Fluchen, Zauberei und Wahr-
sagen, Trunksucht, Spielen, unzüchtigen Tänzen und vor- und außerehelichen sexu-
ellen Kontakten«154 waren konfessionsübergreifend und wurden lediglich um einige
150 Eine Verordnung aus dem Jahr 1774 schrieb bspw. vor, Verzeichnisse anzufertigen über all jene Be-
amten, die am Gründonnerstag nicht die Hl. Kommunion empfingen. Tropper, P. G.: Staatliche
Kirchenpolitik (1989), 27 f.
151 Ebd., 27–29.
152 Kuzmics, H./Axtmann, R.: Autorität (2000), 90 f.
153 Tropper, P. G.: Staatliche Kirchenpolitik (1989), 30–32.
154 Winkelbauer, T.: Sozialdisziplinierung (1992), 327.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353