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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten116
Als Schlachtruf wurde die Parole »Los von Rom« ausgegeben. Sie wurde bereits
1848 von reformwilligen Deutschkatholiken in den Mund genommen, nun aber, ge-
gen Ende des 19. Jahrhunderts von der Alldeutschen Bewegung Schönerers als Auf-
forderung zum Austritt aus der katholischen bzw. zum Übertritt in die lutherisch-
protestantische Kirche instrumentalisiert.288 Parolen wie »Ohne Juda, ohne Rom,
wird erbaut Germaniens Dom !« hallten als Schlachtrufe nach, als konkrete Ziele
wurden u. a. »Austreibung der Jesuiten, Überwachung der Kanzel […] und Aufhe-
bung der Klöster«289 gefordert. Die Christlichsoziale Partei wurde als Unterstüt-
zerpartei der klerikalen Herrschaft vehement angefeindet. Auch Vertreter anderer
deutschnationaler Parteien, allen voran der Deutschen Volkspartei, sympathisierten
mit diesen Positionen.290
In Kärnten betrieben seit Mitte der 1880er Jahre auch die ursprünglich aus dem
liberalen Lager stammenden Otto Steinwender und Arthur Lemisch einen immer
radikaleren deutschnationalen Kurs und konnten im Profilierungsjahr der Los-von-
Rom-Bewegung 1897 mit der »Deutschen Volkspartei in Kärnten« bei den Reichs-
ratswahlen einen deutlichen Wahlsieg feiern.291
Zum deutschnationalen Propagandaorgan wurde die Tageszeitung Freie Stimmen,
die für den angeblich deutschfeindlichen Kurs der Regierung den slawisch dominier-
ten Klerus verantwortlich machte und zur Befreiung aus der slowenisch-klerikalen
Umklammerung aufrief. In den Jahren nach 1897 wurden allmählich die Behörden
auf diese Bewegung aufmerksam, im Sommer 1899 gipfelte die antiklerikale Stim-
mung in tätlichen Konflikten. Bei einer katholischen Akademikertagung kam es zu
lautstarken und gehässigen Demonstrationen, Fensterscheiben wurden eingeschla-
gen und Tagungsgäste mit Steinwürfen und Stöcken überfallen und geschlagen.292
Bruckmüller konstatiert, dass im Zuge der Los-von-Rom-Bewegung 70.000 bis
85.000 deutschösterreichische Katholiken und Katholikinnen zum Protestantismus
übergetreten sind.293 Für Kärnten hat Ulfried Burz empirische Befunde zu Austritts-
zahlen ausgearbeitet, deren Aussagekraft er jedoch mit dem Hinweis auf fehlende
vergleichbare Länderstudien relativiert. Demnach haben sich zwischen 1898 und
1914 etwa 1.350 Personen tatsächlich los von Rom gesagt (eine eher bescheidene
Zahl, wie Burz bemerkt). Die regionale Struktur der Bewegung zeigt bereits Be-
kanntes : Ein Zentrum der Austrittsbewegung findet sich in Villach, das um 1900
durch den Eisenbahnausbau einen deutlichen Bevölkerungsschub durch Zustrom
288 Hribernig-Körber, V.: Mentalitäten (2008), 6.
289 UDW [»Unverfälschte Deutsche Worte«] 21/1900, 243, zit. in Trauner, K.-R.: Die Los-von-Rom-
Bewegung (1999), 226.
290 Ebd., 226 f.
291 Burz, U.: Katholisch sein (2001), 466 f.
292 Ebd., 468–471.
293 Bruckmüller, E.: Katholisches (2013), 39.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353