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119Das
Nationale Zeitalter
Pressefreiheit, die Bildung politischer Vereine, nicht zuletzt die Schulreformen jener
Epoche hatten im Kontext der nationalen Auseinandersetzungen langfristig gese-
hen zu identitätsbildenden Weichenstellungen geführt. Als Gegenbild zum Priester
wurde der Lehrer mit erheblichem Sozialprestige ausgestattet und die Lehrerausbil-
dung verbessert. »Der Lehrer […] wurde der Agent des Liberalismus auf dem flachen
Land, gemeinsam mit dem Arzt, dem Förster, vielleicht noch dem Tierarzt traten sie
der traditionellen Führungsgarnitur und insbesondere dem Pfarrer gegenüber.«305
Fortan zogen sich nationale Gräben bis in den dörflichen Alltag der Menschen durch,
etwa dort, wo die Sprache der Gesangsvereine zum ideologischen Programm wur-
de.306 Egal, ob im Kultur-, Schul- oder Sportbereich – die Vereinsbildung ging von
nun an unter nationalem Einschlag vonstatten. Im kirchlichen Bereich erhielt diese
»Vereinsmeierei« einen zusätzlich konfessionellen Einschlag, galten doch protestan-
tische Vereine als deutschnational, katholische Vereine als habsburgloyal oder gar
slawophil.307
Der nationale Dualismus erhielt nach und nach ein klares soziales und politi-
sches Profil : Die Deutschnationalen sprachen Bürgertum und vermögende Bauern
an, während die Hauptträgerschicht des slowenischen Nationalismus der sloweni-
sche Klerus war, der großteils kleinbäuerliche Schichten ansprechen konnte. Mit
der Konstituierung des Kärntner Bauernbunds 1886 hatte man aber einen nach und
nach einflussreich werdenden Konkurrenten im Buhlen um die Kleinbauern, waren
doch wohlhabendere slowenischsprachige Bauern Teil und Träger des Bauernbun-
des. Sie galten als »deutschfreundliche« Slowenen und wurden vom slowenischen
Klerus und von der nationalistischen slowenischen Presse als »Deutschtümler« ver-
unglimpft. Dieser Umstand markiert den Bedeutungswandel des Begriffes »Win-
dische«, der lange als allgemeine Bezeichnung für die Slowenen und Sloweninnen
in Kärnten galt, nun aber, im Kontext von Nationalismus und Volksabstimmung,
von jenen »deutschfreundlichen« Slowenen und Sloweninnen in Abgrenzung zu ju-
goslawisch gesinnten Slowenen und Sloweninnen als Selbstbezeichnung gebraucht
wurde.308
Neben der Konkurrenz des Bauernbundes hatte die klerikale Elite des slowenisch-
sprachigen Kärntens aber auch weitere strukturelle Schwierigkeiten : Aus der klein-
bäuerlichen Struktur der gemischtsprachigen Gebiete Kärntens entstand eine
vergleichsweise große Gruppe des »Landproletariats«, die überwiegend von Sozial-
305 Bruckmüller, E.: Katholisches (2013), 37. Dazu auch mit einem Fallbeispiel aus St. Stefan im Gailtal
Moritsch, A.: Nationale Differenzierungsprozesse (2002), 324–330.
306 Moritsch, A.: Nationale Differenzierungsprozesse (2002), 324–327.
307 Wadl, W.: Zur Entwicklung (1995), 15.
308 Ebd., 14 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353