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183Die
Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938
Der Gefertigte teilt mit, dass am 26. April vormittags ein gewisser Herr H. in den Pfarr-
hof kam und mitteilte, dass von Weitensfeld gegen 50 Personen abfallen werden. Grund :
Herr H. H. habe jeden Monat einige Prozesse, in welchen er als Beklagter erscheint, der
den einen jungen Mann mit dem Gummiknüttel gehauen, einem anderen den Lederrock
zerrissen, einen dritten mit dem Gewehrkolben geschlagen und ein Mädchen mit einer
Zaunlatte gehauen habe und dass dieser Mann täglich zur Kommunion gehe. Weiters stelle
sich H. H. auf der Strasse vor den alten Herrn R. – seinem Gegner – und begrüsse ihn
mit ›Treu Dollfuss‹ und wenn Herr R. keine Antwort gebe, sage er ihm, dass der An-
stand verlange, ihm zu antworten. Gleiches mache er bei der Lehrerschaft. Das Pfarramt
Weitensfeld dürfe solche Dinge nicht angehen lassen bei einem Menschen der täglich zur
Kommunion gehe.227
Den Geistlichen lag also die komplexe Vermischung von privaten Konflikten und
politischen Überzeugungen klar vor Augen. Dies war aber persönlich für viele Kleri-
ker auch eine regelrechte Entlastung, weil man eine direkte Schuld von der eigenen
Person abschieben konnte. Man selbst habe sich nichts vorzuwerfen, es sei lediglich
»die Unzufriedenheit mit den jetzigen Regierungsverhältnissen sehr groß. Den Zorn
läßt man aber sonderbarerweise an der katholischen Kirche aus.«228
So sehr man aber mitunter auch versuchte glaubhaft zu machen, dass es nur poli-
tische und keine religiösen oder gar die Person des Seelsorgers betreffenden Gründe
seien, die zum Massenexodus aus der Kirche führten, so wenig konnte man vielerorts
vermeiden, dass sich der Unmut der Bevölkerung auf die Person des Pfarrers selbst
entlud.
Die vaterlandsfeindliche Einstellung eines Großteiles der Pfarre wird durch beständige
Hetze von innen und außen erhalten. Der innere Grimm wird natürlich im Kampf gegen
die katholische Kirche vor allem gegen die Seelsorger offenbar.229
Und doch deuten manche Schreiben (wenn auch nur zaghaft) an, dass es durchaus
auch Geistliche gab, die sich mit der Bevölkerung »gegen das System« verbündet
haben, wie der letzte Teilsatz des folgenden Ausschnittes erahnen lässt :
Doch steht immer noch ein Großteil der Bewohner unserer Pfarre den jetzigen Regie-
rungsverhältnissen feindlich entgegen und in gleicher Weise amtlichen Vertretern der ka-
tholischen Kirche soweit sie nicht mit ihnen halten [H. d. V.].230
227 Schulte, H.: Abfallbewegung Pfarre Weitensfeld (28.04.1934).
228 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (05.07.1936).
229 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (10.12.1935).
230 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (09.10.1936).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353