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213Die
Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938
Ähnlich verhielt es sich mit der »Tochter des Lokomotivführers S., der sich von sei-
ner Frau scheiden lies [sic !] und mit einer Konkubine in Kappel wohnt. Die Tochter
ist ausgetreten um einen gewissen K. in Civilehe nehmen zu können.«380
In einem anderen Fall wiederum ging es um die Legitimierung der unehelichen
Kinder. »U. M. hatte in ihrem Konkubinat 6 uneheliche Kinder, welche sie legiti-
mieren wollte, doch wurde [sie] von ihrem Manne veranlasst, [sich] evangelisch zu
trauen, weil dieser nicht anders heiraten wollte.«381
Wie am Beispiel des zur altkatholischen Kirche übergetretenen Paares zu sehen ist,
war die evangelische Konfession weitaus nicht die einzige Alternative für jene, für die
völlige Konfessionslosigkeit keine Option war.382 »Christliche Sondergemeinschaf-
ten« witterten im antiklerikalen Zeitgeist offensichtlich ihre Chance. Der Pfarrer
aus Zammelsberg hat von deren Werbetätigkeiten berichtet :
Von Zeit zu Zeit, drei bis viermal im Jahr, kommen einige 3–4 Vertreter verschiedener
Sekten und halten an einem Sonntag oder auch Feiertag nach dem Gottesdienst in einem
von der Ortschaft weit entlegenem Hause heimlich eine Abfallsbewegung [sic !]. Nachdem
diese Leute meistens Ausländer sind, werden sie von nun an aus der Pfarrgemeinde poli-
zeilich ausgewiesen.383
Weitaus am häufigsten von diesen Sondergemeinschaften werden die »Bibelforscher«
genannt, heute bekannt als Zeugen Jehovas. Sie sollten – neben vielen anderen welt-
anschaulichen Alternativen zum Nationalsozialismus – nach dem »Anschluss« be-
sonders stark verfolgt werden.
Die sich bis 1931 als »Ernste Bibelforscher« bezeichnenden Zeugen Jehovas384
dürften in den 1930er Jahren eine ernstzunehmende Alternative zur katholischen
und auch evangelischen Kirche geboten haben, die nicht nur, wie oben angedeutet,
von »außen« nach Kärnten getragen wurde, sondern auch innerfamiliär weitergege-
ben wurde :
[Bei W. O.] dürfte der Grund nicht die vom Nationalsozialismus ausgehehende [sic !] Ab-
fallsbewegung sein, sondern die Beeinflussung seiner eigenen Eltern, die fanatische Bibel-
forscher sind und vor Jahren bereits abgefallen sind. Der Vater des W. O. ist Postdirektor
in Straßburg. W. O. Mechanikerlehrling in Straßburg. Auch seine Schwester M. O. wird
380 Ebd.
381 Vianden, J.: Abfallsbewegung Pfarre Karnburg (30.09.1937).
382 So listet der Oberdrauburger Pfarrer gleich sieben im April 1934 ausgetretene Personen auf und
fügt hinzu : »Bemerkenswert ist, dass sämtliche Abgefallene zur alt-katholischen Kirche übergetreten
sind.« Pregl, O.: Rundfrage (06.08.1934).
383 Thamm, F.: Abfallsbewegung Pfarre Zammelsberg (25.07.1933).
384 Schmid, G./Schmid, G. O.: Kirchen, Sekten, Religionen (2003), 168.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353