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229Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
in welcher Ansehung der Hertzog im Jahre 790 nach Christi Geburt eine stattliche Mahl-
zeit an einer mächtigen langen Tafel angestellt, und dazu sowohl die Bauern als Edelleut
eingeladen, die Bauern aber oben, die Edelleut hingegen unten angesetzt. Ferner befahl er,
oben aufs beste in silbernen, unten aber in hültzernen Schüsseln mit gantz gemeinen und
schlechten Speisen zu tractiren, auch in guldenen und silbernen Geschirren denen Bauern
Wein, denen Edelleuten aber in hültzernen Bechern Wasser fürzusetzen. Als er nun um die
Ursach befragt wurde, gab er zur Antwort, daß die Bauern viel edler seyen als die Edelleute,
weilen sie eine edle und reine Seel im Leib hätten, indeme sie den christlichen Glauben
angenommen ; der Adel aber wäre gantz verstockt in der Abgötterey und bey weitem nicht
so hoch zu achten.
Welcher arglistige Fund soviel gewürcket, daß die Edelleut auch sich tauffen lassen und
zum Christlichen Glauben bekehret haben. Dannhero Hertzog Inguo zu ewiger Gedächt-
niß, weil die Bauernschafft lang vor dem Adel die Abgötterey verlassen und zu Christo be-
kehret worden, angeordnet, daß künfftig die angehenden Landsfürsten durch einen Bauern
sollten eingesetzt werden.23
Wie hier zu sehen, wurde aus einer christlichen Lehrerzählung zu Missionszwecken
im Laufe ihrer historischen Überformung über das Anliegen des jeweiligen Erzähl-
kontexts eine ätiologische Schilderung der Fürsteneinsetzungszeremonie. In der
bunten Ausgestaltung der ursprünglich knappen Parabel schimmert bei Valvasor be-
reits die Idealisierung des Bauernstandes durch, die, wie bereits angedeutet, eine
wichtige Rolle im Kärntner Habitus einnimmt. Aus den »rechtgläubigen Knechten«
(vere servos credentes) der Conversio-Erzählung wurden Bauern, aus ihren »ungläu-
bigen Herren« (eorum dominabantur infideles) Adelige. Wie Jesus in seinen Gleich-
nissen die Armen und Notleidenden zu den Prädestinierten für das Himmelreich
macht, werden die Bauern in Valvasors interpretatorischer Erzählung zu den mo-
ralisch Triumphierenden und politisch Legitimierenden. So wird die Verknüpfung
zur Einsetzungszeremonie am Fürstenstein und Herzogstuhl naheliegend. Auch hier
spielt der einfache Bauer eine wichtige Rolle.
Obwohl die historischen Hintergründe der Fürsteneinsetzungszeremonie am
Zollfeld kontrovers diskutiert werden,24 ist die mit ihr zusammenhängende bemer-
23 Johann Weikhard von Valvasor, zit. in : Stejskal, H.: Kärnten (1991), 37.
24 Eichert, S.: Christentum und Heidentum (2012), 492 mit weiterführenden Literaturhinweisen. Wäh-
rend die ersten konkreten Berichte die Einsetzungszeremonie des Görzer Grafen Meinhard 1286
schildern, kann auf dieser vorausgegangene Fürsteneinsetzungen nur indirekt geschlossen werden. So
haben sich vermutlich 1122 die Spanheimer diesem Ritual unterzogen, 1161 auch Herzog Hermann.
Auch Erzbischof Eberhard I. von Salzburg soll in einer Rede gegen Kaiser Friedrich I. am Fürstenstein
gestanden sein. Das letzte Mal hat sich 1414 Ernst der Eiserne, Vater Friedrichs III., der für damalige
Sozialverhältnisse erniedrigenden Zeremonie unterzogen. Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984),
343–348.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353