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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis256
Die junge Nonne steht hier wohl für alle innerkirchlichen Kritiker und Kritikerin-
nen des Heiligsprechungsprozesses, die in den 1930er Jahren das Verfahren immer
wieder an den Rand des Scheiterns gebracht haben. Viesèr legt die Gegenargumen-
tation ausgerechnet in den Mund des Erzbischofs von Salzburg. Es handelt sich nicht
mehr um den anfangs als mächtigen Kirchenfürsten skizzierten Erzbischof Friedrich,
sondern um dessen Nachfolger Balduin, der als Hemmas geistiger Ratgeber und
Unterstützer auftritt. Er entgegnet :
›Meine Tochter, viele Wege gibt es, um Gott zu finden, und nicht der leichteste, nicht
der schlechteste dünkt mich der, den eure gute Mutter gegangen ist. Sie hat freilich keine
außergewöhnlichen Opfer gebracht und hat nicht alles hingeworfen, was ihr an Liebe und
Macht beschieden war. Doch liegt in diesen auffallenden Werken der Frömmigkeit oft
ebensoviel Stolz und Eigensinn als guter Wille, Gott zu dienen. Das Größte dünkt mich
dies : Alles aus Gottes Hand anzunehmen, wie er es schickt. Frau Hemma hat es getan. Sie
ist ihm nicht zuvorgekommen, sie hat immer gewartet, wie er es fügen wird. Doch jede
Schickung, ob gut oder böse für sie, hat sie aufs Vollkommenste benützt, um ohne Eigen-
willen das Beste daraus zu gestalten. So hat sie mehr zu Gottes Ehre gewirkt als durch
Wunder und Gesichte.‹141
Die Rechtfertigung durch den Erzbischof ist Programm für alle Leser und Leserin-
nen, allen voran aber für die Kärntner und Kärntnerinnen, denen die neue Heilige
als erreichbares Vorbild dienen soll. Sie zeichne sich nicht durch völlig unerreich-
bare religiöse »Virtuosität« in asketischen Spitzenleistungen aus, sondern durch
das Annehmen des eigenen Schicksals, durch das Widerstehen aller Versuchungen.
Somit wird das Thema »Annehmen des eigenen Schicksals« und »Entsagung« zu
einem zentralen Leitmotiv im gesamten Roman. Bereits im Kindesalter hatte sich
Hemma ihrem Gatten Wilhelm von der Sann versprochen. Noch im Jugendalter
wird dieses Versprechen durch die geheime, aber unerfüllte Liebe Hemmas zu dem
aus slawischer Gefangenschaft geflohenen Ritter auf die Probe gestellt. Hemma be-
steht diese Probe ebenso wie sie alle anderen Entsagungen und Enttäuschungen über
sich ergehen lässt : die anfänglichen Erniedrigungen ob der langen Kinderlosigkeit,
den heimtückischen Verrat durch nahe Vertraute, den Aufstand ihrer so mütterlich
behandelten Untertanen, die ruchlose Ermordung ihrer Söhne und schlussendlich
die Pilgerfahrt ihres Mannes im hohen Alter, während der er am Heimweg, eine
Tagesetappe vor dem Ziel, verstirbt.142
Dementsprechend deutete man in der katholischen Kirche in Kärnten während
der Zwischenkriegszeit den Verlust von öffentlichem Einfluss als Ergebnis eines Sit-
141 Ebd., 414.
142 Vgl. dazu auch Abret, H.: Regionalgeschichte (2010).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353