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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis268
dringlinge zur identitätsstiftenden Abgrenzungstrategie,201 wie die folgenden Text-
passagen aus dem schon zitierten Kärntner Heimatbuch von 1923202 illustrieren. Die
Osmanen werden hier als »das wilde Volk«203 oder als »die grausamen Horden«204
bezeichnet. »Wohl sind über Kärntens Boden verheerende Völkerstürme gebraust,
aber solche Greuel wie bei den Türkeneinbrüchen, hat das Land nie erlebt.«205 Die
Geschichtsdarstellung wird zur Horrorgeschichte, der Unterschied zwischen Fakt
und Fiktion verblasst auch hier. »[A]ls brave Bauern aus Klagenfurt einen Ausfall
versuchten, um den Türken etwas von ihrer Beute abzujagen, wurden sie von der
Stadt abgeschnitten, gefangen und enthauptet. Auf einem Felde an der Glan rollte
man ihre Köpfe zusammen.«206
Die unterlassene Hilfeleistung und das Desinteresse des Kaisers an Kärnten gel-
ten als wichtige Details, die immer wieder betont werden :
Das Land brachte die Mittel nicht auf, das Reich hatte für das habsburgische Land nicht
das nötige Interesse und der Kaiser Friedrich III. war völlig unvermögend und hatte weder
den Willen noch die Kraft, ernstlich zu helfen ; und wo er den Versuch machte, geschah
es in einer so schwerfälligen Art, daß vor lauter Verhandlungen nie ein rechter Beschluß
zustande kam.207
Im Kontext der 1920er Jahre werden die Leser und Leserinnen unweigerlich Paral-
lelen zum Kärntner Abwehrkampf gezogen haben, für den der Mythos vom selbst-
organisierten Widerstand nach unterlassener Hilfeleistung durch die Regierung in
Wien bereits fest im kollektiven Gedächtnis verankert war, wenn es weiter heißt :
Von Kaiser und Reich war keine Hilfe zu erwarten. Ja, man hatte schärfstes Mißtrauen
gegen den Kaiser, dem man zumutete, daß er die Steuergelder, die das ausgepreßte Volk so
schwer aufbrachte, für sich und nicht für die Verteidigung verwende. Das Kärntner Volk
trug sich schon mit dem Gedanken, den Gehorsam aufzusagen, dem Türken zuzufallen
oder auszuwandern. Doch rafften sich Deutsche und Slowenen noch auf zum letzten Ver-
such : Es bildete sich der erste Kärntner Bauernbund.208
201 Feichtinger, J.: Einleitung (2013), 10.
202 Widmann, H.: Kärntner Heimatbuch (1923).
203 Ebd., 66.
204 Ebd., 73.
205 Ebd., 68.
206 Ebd.
207 Ebd.
208 Ebd., 70, H. i. O.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353