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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis280
gebunden und in seinem Denken bevormundet sei, da leide auch sein Heimatgefühl, denn
ein aufrechter Mann achte innere Freiheit und Menschenwürde höher als äußeren Besitz und
müsse sich innerlich freimachen von allzu starker Bindung an die irdische Heimat.248
Während dieser Gedankengang die spätere Auswanderung der Familie vorwegnimmt
und legitimiert, ist es im zweiten Teil des Buches genau jener Gewissenskonflikt, der
denen zum Verhängnis wird, die um der irdischen Heimat willen geblieben sind und
dafür ihren Glauben verleugnet haben. Folgende Passage spielt im Jahr 1616 in Mal-
borghet. Unmittelbar vor dem bevorstehenden Raubzug der Venezianer beratschla-
gen die Alten die ihnen verbleibenden Optionen Flucht oder Bleiben. Einer der Alten
argumentiert : »Wir haben unsern evangelischen Glauben verleugnet, weil wir die
Heimat nit habend verlassen können, und wenn uns der Herrgott die Heimat jetzt
doch noch nehmen wollt, so müßten wir’s hinnehmen als eine gerechte Straf’«249.
Dasselbe Thema wird an anderer Stelle noch verstärkt, wo für die Magd Rufina
die Verleugnung ihres Glaubens in direktem Zusammenhang mit der Liebe zur Hei-
mat steht :
›Heimat‹, flüstert Rufina, ›schöne Heimat !‹ – – – Seit sie vor 15 Jahren um der geliebten
Heimat willen den lutherischen Glauben verleugnet hat, liebt sie die Heimat viel bewuß-
ter denn ehedem, sie liebt sie mit Eigensinn und Leidenschaft, wie vielleicht eine Mutter
ihr Kind lieben mag, für das sie, um es nicht verlieren zu müssen, ihr Gewissen mit einer
schweren Schuld beladen hat.
Rufina ist wie ihr Vetter, der Bürgermeister, sowie dessen Sohn Paul im Herzen evan-
gelisch geblieben. Sie gehen nicht zur Messe und zweimal im Jahr kommt ein als Bauer
verkleideter Prädikant aus dem oberen Mölltal und sie feiern heimlich das heilige Mahl in
beiderlei Gestalt.250
Damit kommt der Geheimprotestantismus zur Sprache, der nach und nach im Bau-
ernstand seine Trägerschicht findet. Sogar der »Hüterbub vom Zeneggenhof« hat
nur Spott und Hohn für die katholischen Kommissionen übrig, wie er seinem Guts-
herrn mitteilt :
›Und katholisch hams uns a g’macht, und auf d’woch’n kumm’ mir zan beicht’n. Dös gi’t a
Hetz ! Mir lügen s’ alle recht an, und wann s’ wieder furt san, die Loder, die damisch’n, wen
mer wieder evangöllisch !‹ prahlte der Bub.
›So‹, sagte Flori [der Gutsherr, Anm. d. Verf.], ›aber wann’s lüagts, kumbt’s in d’Hölln !‹
248 Ebd., 117.
249 Ebd., 246.
250 Ebd., 254.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353