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289Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Als die Franzosen gegen Ende März anrücken, geraten die Klagenfurter in Aufruhr,
ganz besonders ihre ständischen Vertreter :
Der Herr Landeshauptmann ist bei Nacht und Nebel durchgebrannt. Er müsse das ärari-
sche Gut in Sicherheit bringen, ließ er seinen getreuen Klagenfurtern sagen. […] Im Nu
waren die Gassen voll Menschen. […] Viele ließen alles liegen und stehen und hatten nur
den einen Gedanken, möglichst bald das Weite zu gewinnen. Man balgte sich um Pferde
und Wagen. Die ersten und ärgsten darunter waren die Beamten. […] Der gestrenge Herr
Regierungsrat Panzer hat gar mit einem Malterwagen vorlieb genommen, so bescheiden
sind die Herrschaften auf einmal geworden.284
Noch deutlicher wird diese Elitenkritik in folgendem Tagebucheintrag, in dem
Sittenbergers Protagonistin beschreibt, wie die nun bereits in Klagenfurt lagern-
den Franzosen die Klagenfurter Bevölkerung zur Bereitstellung von Lebensmitteln
zwingen :
Ich mag’s den Leuten wahrhaftig nicht verdenken, daß sie auf die Franzosen wacker fluch-
ten, aber bei alledem hab’ ich’s selber doch nicht gar so tragisch nehmen können. Denn
wenn ich mir vorstelle, wie die ganze Stadt nach dem Kommando der Franzosen springen
mußte, die Vornehmen und Reichen geradeso flink und leicht wie die Armen und Niedri-
gen, so kam mir die Sache gar nicht so unlustig vor. […] Siehst du, so tapfer schmauchen
heute alle Schornsteine in der Stadt, vom ersten bis zum letzten, und der hochwohlge-
borene Herr von X. und der nicht minder hochwohlgeborene Herr von Y., die sich sonst
nicht einmal selber ankleiden, die stehen jetzt neben ihren Dienstleuten mit aufgestreiften
Hemdsärmeln am Backtrog und kneten darauf los, daß ihnen die hellen Schweißtropfen
von der Stirne rinnen, just als ob’s kein edleres Vergnügen auf Erden gäbe denn Brotbacken.
Da hab’ ich dann allemal heimlich vor mich hinlachen müssen und mir gedacht : Schau,
die Franzosen verstehen sich doch auf einen guten Spaß, wenn’s auch nicht gleich danach
aussieht.285
Sittenbergers beißende Satire ist schließlich ein Rundumschlag gegen das Klagen-
furter Stadtestablishment. Statt Vaterlandstreue und Heldenmut diagnostiziert die
Protagonistin Heuchelei und Wankelmut, da nützen auch die berührenden Predig-
ten des Dompropstes nichts :
Wir sind dann alle in die Stadtpfarrkirche gegangen. Der Herr Dompropst Ortner hat ge-
predigt und die lieben Bewohner von Klagenfurt aufgefordert, standhaft auszuharren und
284 Ebd., 23.
285 Ebd., 41 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353