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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis294
nerin Marianne, die sich bis zur Gutsbesitzerin »hochschläft« und im Hintergrund
die Fäden zieht. Ihnen gegenüber stehen die positiv besetzten Charaktere Gertraud
und ihr Bruder Andreas, die aber bezeichnenderweise beide deviant werden, also ge-
gen die Normen ihrer Bezugsgruppen verstoßen und als »Nestbeschmutzer« sank-
tioniert werden – Andreas, weil er die beengende Atmosphäre seines Heimathauses
nicht mehr erträgt, flüchtet und schließlich als Schmuggler im Gefängnis landet, und
Gertraud, weil sie aus ihrer trostlosen Ehe auszubrechen versucht und schließlich
mit dem Leben büßen muss, als Leopold die Affäre mit dem französischen Besat-
zungssoldaten aufdeckt.
Die Franzosen hingegen erscheinen in diesem Roman in einem günstigeren Licht.
Die militärischen Eindringlinge werden als hilfsbereit und leutselig geschildert, de-
ren Weltoffenheit in Kontrast zur verbohrten Kleingeistigkeit der Kärntner Einhei-
mischen gestellt. In solcher Weise sinniert der französische Lieutenant Gaston de
Villeneuve über die Bevölkerung dieses Landes :
Die Franzosen waren schon seit 1797 im Lande, und es gab wenig Reibereien. Aber in die-
sen zehn Jahren war keine Freundschaft entstanden. Man war zu verschieden. Man lernte
Deutsch und stand doch wie ein Idiot dabei, wenn diese Leute unter sich redeten. Man
hatte das Gefühl, als wären sie nicht besonders intelligent. Ihre Gesichter waren so still.
Sie waren kaum von dem unterrichtet, was in der Welt vor sich ging, aber er hatte sie
im Verdacht, daß sie hell genug waren, um allem zu begegnen, was aus dieser Welt an sie
herankam.297
Natürlich werden die Besatzer von den Einheimischen als Eindringlinge wahrge-
nommen, geschickt versteht es Viesèr aber, den Zwiespalt innerhalb der Bevölkerung
herauszuschälen, ergeben sich doch aus der Anwesenheit der Franzosen auch viele
Vorteile. So hat man »nichts dagegen einzuwenden, daß die zehn Franzosen einige
Tage lang halfen, Haus und Hof und Stallungen in säuberlichste Ordnung zu brin-
gen […]«298 und »es wurde ihnen bald erzählt, wie tüchtig der Feldscher den Aderlaß
gemacht und sich dann täglich um die Kranken gekümmert hatte. Und da waren
manche insgeheim froh, dies zu wissen, denn der Bader von Althofen war ein wahrer
Folterknecht.«299
297 Viesèr, D.: Nachtquartier (1971), 14.
298 Ebd., 36.
299 Ebd., 33.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353