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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis298
nese nur aus dem Zivilisationsprozess des Landes zu verstehen ist, beschreibt Viesèr
die Genese von Leopolds autoritärem Charakter aus dessen Sozialisationsprozess.
Leopolds Konflikt mit Cyrill ist sein persönlicher Abwehrkampf gegen den slawi-
schen Besatzer seiner Heimat. Viesèr lässt den Knecht seine Erinnerungen an den
widerständigen Buben Leopold schildern :
›Zuerst einmal war er nichts als ein bockiger aufsässiger Fratz. Überall ist er im Weg ge-
standen und hat herumgelauert. Aber wir haben ihn verdroschen, und dann ist er wieder
eine Weile belehrt gewesen. […] Sie [die Mutter, Anm. d. Verf.] war aufgebracht, weil der
Bub gegen mich so frech und verstockt war. Auch mit ihr selber hat er tagelang kein Wort
geredet. Wir haben ihn bei den Müllerbuben essen und schlafen lassen, – waren froh, wenn
wir sein finsteres Gefriß nicht gesehen haben.‹309
Die gewaltsamen Sanktionen gegen den renitenten Knaben bewirkten das Gegen-
teil : Aufstand und gesteigertes Unrechtsbewusstsein. Als Leopold älter wurde, er-
zählt Cyrill weiter, habe er begonnen, hinter dem Rücken des Spiel und Rausch
zugeneigten Knechtes selbst die wirtschaftlichen Belange des Gutes in die Hand zu
nehmen und sich das andere Gesinde zu Verbündeten zu machen. Leopold habe sich
am Knecht gerächt und ihm einen Pistolenschuss in den Bauch verpasst. Fortan habe
sich auch die Mutter seiner Gewalt beugen müssen.
Und von da an war sie nicht mehr dieselbe. Sie wagte kein Wort dagegen zu sagen, wenn er
die kroatischen Knechte, die Kumpanei ihres Herrn, der ja wie sie ein Knecht war, vom Hofe
schaffte. Sie ließ es zu, daß er zu Lichtmeß sich neue Leute warb, und daß er den alten selbst
den Lohn ausbezahlte. Er maß ihn sorgfältig nach ihrem Gehorsam gegen ihn. Und nach die-
sem Lostag blieben die Schlüssel zur Geldtruhe und den Vorratskammern in seinen Händen.310
Cyrills vergebliches Ringen um Einfluss war erfolglos geblieben, fortan wurden ihm
nicht nur die gewohnten Rechte versagt, sondern auch das nicht minder mächtige
Sanktionsmittel der Beschämung zuteil :
Cyrill fluchte und begehrte auf und verlangte Geld und die gewohnten Rechte. Der Junge
aber gab ihm nicht mehr als den Lohn eines Roßknechtes, und von seinen Rechten blieb ihm
bald nur noch das eine, mit der Bäurin in der großen Schlafstube zu liegen. Das war aber auch
kein Vergnügen mehr, denn sie schämte sich auf einmal vor ihrem Sohn, den Mägden und den
Nachbarn, und wenn er zur Hochzeit drängte, wies sie ihn unter zornigem Schluchzen ab.311
309 Ebd., 292.
310 Ebd., 293.
311 Ebd., 293 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353