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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis308
Das Bild des Klerikers ist in Perkonigs frühem literarischen Schaffen durchaus
ambivalent. In dem Roman Das Tagebuch des Lehrers Peter Blum aus dem Jahr 1914 er-
scheint ein Dechant als milde und weise.348 Auch in anderen Erzählungen treten epi-
sodisch als gütig oder verzeihend beschriebene Pfarrer auf.349 Demgegenüber steht
die Figur des jungen eifernden Kaplans in der frühen Erzählung Über Jahr und Tag
(1911). Sie schildert den Konflikt eines ungehobelten Raufbolds, der die Kirche »ein
einziges Mal von innen gesehen«350, mit dem Dorfgeistlichen. Weil der Raufbold in
der Osternacht statt in die Kirche lieber »fensterln« geht, stößt ihn der Kaplan bei
einer dieser Gelegenheiten von der Leiter. Der an Körper und Stolz verletzte Prot-
agonist übt Rache an seinem Widersacher, schlägt ihn am Ostersonntag des Folge-
jahres zusammen und muss ins Gefängnis. Als er nach seiner Entlassung dem Kaplan
wieder über den Weg läuft, hat er statt Zorn nur noch Mitleid mit dem Geistlichen,
der die Liebe zu einem Mädchen nie erfahren hat :
›Hast mir viel Zeit verschafft im Kriminal, zum Denken und Sinnieren. Das war für die sel-
ber guat. Denn nit bloß amal hab’ i mir ’denkt, hätt’ er g’wußt, was das haßt, a Diandl gern
hab’n, so hätt’ er in derselbig’n Nacht nit dö Lat’r weg’zog’n. So wär’ all’s ausblieb’n. Nit
du bist schuldi, daß ’d es nit waßt, wia süaß dö Liab is und wia traurig und harb, wanns mit
der Liab und Treu aus is. Bist a armer Teufel, grad nit so wie i, weil d’ no glabst, du hätt’st
recht g’tan. Geh hiaz, mi könnt’s am End reuen, daß is nit anders g’macht … !‹351
Die Erzählung bringt einen typischen Konflikt zwischen der Bevölkerung und den
Geistlichen zum Ausdruck. Zwar steht der Raufbold für die Naturhaftigkeit, ja auch
»unzivilisierte« Derbheit einer ganzen sozialen Schicht ; im Konflikt mit dem Geist-
lichen, der vermeintlichen sittlichen Autorität, erscheint er aber als moralischer Sie-
ger. Trotz seiner ruppigen Natur verzichtet er auf eine abermalige Gewalttat und
bringt durch das Argument des Mitleids mit dem Kaplan seine Überlegenheit in
diesem Konflikt zum Ausdruck. Der Vorwurf der Lieblosigkeit des Klerikers spielt
nicht nur auf den Zölibat an, sondern auch auf die Versteifung auf allzu rigide Sit-
ten- und Verhaltensregeln und will damit das fehlende Verständnis des Klerus für die
Lebensrealität der »einfachen« Bevölkerung zum Ausdruck bringen.
Während die Figur des Kaplans in Über Jahr und Tag eine völlig unpolitische ist,
wird diese Facette zum bestimmenden Element in Perkonigs Volksabstimmungs-
348 Die Hauptfigur, der Lehrer Peter Blum, erinnert an Perkonig selbst, der Ort der Handlung lehnt sich
an Perkonigs erste Station als Lehrer in Obervellach an. Ebd., 78–82.
349 Ebd., 77.
350 Perkonig, J. F.: Über Jahr und Tag (1911), 85.
351 Ebd., 90.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353