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17Agrarsysteme
und Landwirtschaftsstile im Kräftefeld
onalstaats darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Agrargesellschaft seit der
Verdichtung transnationaler und -kontinentaler Güter-, Finanz-, Menschen- und
Wissenstransfers ab Mitte des 19. Jahrhunderts global verflochten war.69
Der Nationalsozialismus setzte der globalen, marktliberalen Agrargesellschaft
unter britischer Hegemonie, die sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg
ausgebildet und danach fortgesetzt hatte, die Alternative einer kontinentaleuropä-
ischen, staatsgelenkten Agrargesellschaft unter Führung des Deutschen Reiches
entgegen. Die Vision eines nationalsozialistischen „Agrar-Europas“ leitete etwa die
1942 erschienene Programmschrift Um die Nahrungsfreiheit Europas von Herbert
Backe, Staatssekretär und späterer Minister für Ernährung und Landwirtschaft im
Deutschen Reich : Die „Weltwirtschaft“ unter dem liberalistischen Regiment der
„unsichtbaren Hand“ der Marktkräfte führe die bäuerliche Landwirtschaft gera-
dewegs in den Untergang ; daher müsse die „sichtbare Hand“ der Staatsführung
als Organ des „Volkswillens“ das „Bauerntum“ beschützen sowie dessen ökonomi-
sches und „rassisches“ Leitungspotenzial zur Entfaltung bringen. Die angestrebte
„Nahrungsfreiheit“ schien wegen beschränkter Ressourcen im Reichsgebiet allein
in einem unter deutscher Führung stehenden „Großraum“ unter Einschluss der
Agrarüberschussgebiete Ost- und Südosteuropas machbar.70 Bereits in den 1930er
Jahren suchte Deutschland dieses Potenzial mittels Handelsverträgen auszuschöp-
fen ; ab Kriegsbeginn sollte die Ausplünderung der besetzten und abhängigen Ge-
biete die trotz jährlicher „Erzeugungsschlachten“ klaffenden Lücken füllen. Der
Nationalsozialismus peilte
– trotz seiner agrarromantischen Rhetorik
– keine ‚anti-
moderne‘ Wiederherstellung vorindustrieller Verhältnisse an ; er suchte seine Ant-
wort auf die „Agrarfrage“ nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft einer
alternativen Moderne jenseits des liberalistischen Agrarindividualismus und des
sozialistischen Agrarkollektivismus. Den Fluchtpunkt bildete das Deutsche Reich
als wirtschaftlich und militärisch schlagkräftige Industriegesellschaft im Gravi-
tationszentrum des kontinentaleuropäischen „Großraums“ mit davon abhängigen
Peripherien.71 Als tragendes Rückgrat der NS-„Volksgemeinschaft“ galt das im
Reichsnährstand organisierte „Landvolk“ als agrarischer Kern einer entwickelten
Industriegesellschaft. Der Gemeinschaftsentwurf des „deutschen Landvolkes“ ver-
band – wie jener der „Volksgemeinschaft“ insgesamt72 – ‚grobe‘ und ‚feine Unter-
schiede‘ : Einerseits schloss er Juden, Slawen und andere „Gemeinschaftsfremde“
aus ; andererseits maß er die eingeschlossenen „Volksgenossen“ an der Fähigkeit,
die nationale „Nahrungsfreiheit“ und „Rassereinheit“ zu gewährleisten. Die na-
tionalsozialistische Agrargesellschaft als „(Land-)Volksgemeinschaft“ entfaltete –
trotz der Kluft zwischen Vision und Realität – im Alltag erhebliche Wirkung.
Die dauerhaften, gleichwohl veränderlichen Zusammenhänge, die eine (Ag-
rar-)Gesellschaft ausbilden, sind Gegenstand handlungs- und systemtheoretischer
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937