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18 Akteure in Agrarsystemen
Ansätze der Sozial- und Kulturwissenschaften. Die gesellschaftsbildenden Zu-
sammenhänge werden bei Ersteren durch die Alltagspraxis denk- und handlungs-
mächtiger Akteure geknüpft, bei Letzteren durch gleichsam ‚hinter dem Rücken‘
der Akteure wirkende Strukturen geschaffen. Für den Gegenstand dieser Studie –
das alltägliche Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft – eig-
nen sich vor allem Gesellschaftstheorien, die im Zuge einer Konvergenzbewe-
gung den Gegensatz zwischen Handlungs- und Systemtheorien zu überwinden
suchen.73 Einen Schritt in diese Richtung setzt Jürgen Habermas mit dem – wenn
auch umstrittenen74 – Versuch, Gesellschaft zugleich aus der Beobachterpers-
pektive als funktional integriertes „System“ und aus der Teilnehmerperspektive
als kommunikativ integrierte „Lebenswelt“ zu entwerfen.75 Daraus formuliert er
die Zeitdiagnose der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die ökonomischen
und politischen Systemimperative des „monetär-administrativen Komplexes“.76
Da Lebenswelt häufig eng – als „rein phänomenologischer Sachverhalt“ – gefasst
wird, bevorzuge ich den weiter gefassten Begriff der Alltagswelt.77 In einem wei-
teren Gedankenschritt erschließt sich der Zusammenhang von Funktionssystem
und Alltagswelt mit Pierre Bourdieu und Anthony Giddens als gesellschaftliches
Feld, in dem mehr oder weniger mächtige Akteure innerhalb beschränkender und
ermöglichender Manövrierräume gemäß habitualisierter Denk- und Handlungs-
schemata um Ressourcen verschiedener Art ringen78
– und durch ihre Alltagspraxis
die äußeren und verinnerlichten Strukturen in derselben oder veränderten Weise
wiederherstellen.79 Dieser allgemeine Theorierahmen vermag auch für die Beson-
derheiten von Agrargesellschaften entwickelte Konzepte ökonomischer, soziologi-
scher und ethnologischer Herkunft aufzunehmen.
Die Agrargesellschaft lässt sich aus der Beobachterperspektive als System – ge-
nauer, als komplexes System – betrachten :80 „Komplex sind Systeme, wenn die
Wechselbeziehungen der Teile ein Gesamtverhalten erzeugen, das sich signifikant
vom Verhalten der einzelnen Teile unterscheidet.“81 Für das Agrarsystem bedarf
der meist nationalstaatlich, zunehmend global gerahmte Systembegriff der Ge-
sellschaftstheorie82 einer zweifachen Anpassung : Erstens beobachtet diese Studie
Agrarsysteme auf verschiedenen Ebenen ; dabei stehen neben nationalstaatlichen
vor allem regionale, lokale und betriebliche Systeme
– landwirtschaftliche Produk-
tionsgebiete, Landgemeinden, Bauern- und Gutshöfe – im Zentrum.83 Zweitens
zeichnet sich ein Agrarsystem gegenüber anderen Systemen durch die Verwoben-
heit naturaler und sozialer Elemente – Menschen, Tiere, Pflanzen, Maschinen,
Gebäude und so fort – aus : Einerseits ist es Teil der Natur, die etwa über die
Klima-, Boden- und Reliefbedingungen der Kulturpflanzenwahl, die Saisonalität
des Arbeitsbedarfs, die Ertragsrisiken aufgrund von Witterungsschwankungen,
Krankheiten und Schädlingsbefall oder die Auswirkung der Landnutzung auf die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937