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19Agrarsysteme
und Landwirtschaftsstile im Kräftefeld
Bodenfruchtbarkeit der Landbewirtschaftung Grenzen setzt.84 Andererseits ist es
Teil der Gesellschaft, die sich die Natur entsprechend menschlicher Bedürfnisse,
vor allem dem Bedarf an quantitativ und qualitativ entsprechender Nahrung, im
Zuge von „Kolonisierung“ aneignet.85 So gesehen erscheint ein Agrarsystem als auf
verschiedenen Ebenen zu beobachtendes Hybrid naturaler und sozialer Elemente,
deren wechselseitiger Zusammenhang eine – dauerhafte, aber durchaus veränder-
bare – Grenze zu seiner Umwelt zieht.
Historische Forschungen über Agrarsysteme verwenden sozialökonomische
Modelle, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, und sozialökologi-
sche Modelle, vor allem in der Umweltgeschichte.86 Beide modellieren den Zu-
sammenhang der Systemelemente in je eigener Weise : Sozialökonomische Mo-
delle fokussieren häufig auf das Zusammenspiel der „Kräfte der Einseitigkeit“
(z. B. des Standortes), der „Kräfte der Vielseitigkeit“ (z. B. des Arbeitsausgleichs)
und der „Kräfte der Wirtschaftsentwicklung“ (z. B. des Marktpreisgefüges).87 So-
zialökologische Modelle rücken den Stoffwechsel („Metabolismus“), die Material-
und Energieflüsse, zwischen Gesellschaft und Natur ins Zentrum.88 Dabei setzen
die Modelle unterschiedliche anthropologische Grundannahmen : Im landwirt-
schaftlichen Betriebssystem sucht ein rationaler „Unternehmer“ durch ‚optimale‘
Kombination der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital den Gewinn zu
maximieren.89 Im Agrarökosystem sucht sich die menschliche „Population“ gleich
tierischen und pflanzlichen Arten in Überlebensnischen einzurichten.90 Trotz al-
ler Erkenntnismöglichkeiten stoßen beide Agrarsystem-Modelle dort an Grenzen,
wo sie anthropologischen Engführungen unterliegen. Das landwirtschaftliche Be-
triebssystem setzt Individuen, die in ‚rationaler‘ Weise den Gesetzen der Ökonomie
folgen, voraus. Im Agrarökosystem scheinen Land bewirtschaftende Kollektive zur
Anpassung an natürliche Gesetzmäßigkeiten gezwungen zu sein. Überspitzt ge-
sagt, beide Modelle beschreiben Agrarsysteme ohne Akteure
– ohne gegenüber den
Systemmechanismen denk- und handlungsmächtige Individuen und Kollektive.91
Die Probleme der Systemperspektive auf die Agrargesellschaft verlangen nach
einer Lösung, die der Perspektive der wirtschaftenden Akteure, dem „Eigensinn“92
der agrarischen Alltagswelt, Rechnung trägt. Dabei geht es nicht um den Ersatz
der Beobachter- durch die Teilnehmerperspektive, sondern um deren Verschrän-
kung – um Akteure in Agrarsystemen. Eine solche Perspektive eröffnet das von Jan
Douwe van der Ploeg entwickelte Konzept des Landwirtschaftsstils,93 das die Eng-
führung auf eine einzige Systemlogik überwindet ; vielmehr erweitert es den Blick
auf die Vielfalt alltagsweltlicher Logik,94 etwa Spielarten der „moralischen Öko-
nomie“95 bäuerlicher Gesellschaften. Wenn Landwirtschaft nicht in objektiven
Gesetzen aufgeht, gilt keineswegs der Umkehrschluss, dass sie sich in subjektiver
Beliebigkeit erschöpft. Jenseits des scheinbaren Dilemmas von Determinismus und
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937