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38 Anatomie eines „lebenden Organismus“
alle Kräfte widmen können. Das Arbeitsvermögen übersteigt wertmäßig den bäu-
erlichen Verbrauch. Die Schicksalskurve tendiert darum nach aufwärts. In diesem
Abschnitt werden sowohl grundlegende Verbesserungen in Haus und Hof vorgenom-
men als auch Teile von Schulden abgezahlt, die auf die Uebernahme des Betriebes
zurückgehen.
Eine Wendung bringt der zweite Zeitabschnitt der Bauerngeneration. Er erhält sein
Gepräge durch einen steigenden Besitzerverbrauch, der aus der zunehmenden Kin-
derzahl erklärlich wird. Zur Behinderung der Bäuerin, die der Betreuung der Klein-
kinder immer mehr Zeit opfern muß, tritt die abnehmende Arbeitsfähigkeit der alten
Bauersleute. Bei angestiegenem Verbrauch ist das Arbeitsvermögen im Dienste der
Wirtschaft abgesunken. Das Einkommen deckt nicht mehr den Verbrauch und die
Schicksalskurve verläuft nach abwärts. Bei vielen Kleinkindern und bei Krankheit
erwachsener Personen kann sie die Bedrängnislinie nicht nur erreichen, sondern selbst
unterschreiten. Unter schweren Substanzeinbußen umschließt dieser Abschnitt nicht
selten den Keim für wirtschaftlichen Verfall.
Der dritte Zeitabschnitt wird eingeleitet, wenn ein Teil der Kinder ins arbeitsfähige
Alter tritt. Damit werden aus Verbrauchern auch Arbeiter. Die Harmonie zwischen
Arbeitsvermögen und Verbrauch gibt der Wirtschaft neuen Auftrieb, der umso größer
ist, je früher die Belastung des Hofes durch die Auszugsbauern aufhört. Mit der Höhe
der Opfer in der abgelaufenen Periode steigt in dieser der Lohn, der in der Arbeits-
kraft einer kinderreichen Familie zum Ausdruck kommt. Unter günstigen Verhältnis-
sen übersteigt der Arbeitsertrag weitgehend den Verbrauch und kann zur Bildung von
Reserven führen, die der späteren Abfindung der Miterben dienen.
Im vierten und letzten Zeitabschnitt erfährt die Schicksalskurve wieder eine Sen-
kung, weil einmal die Kräfte der Bauersleute schwinden, zum anderen ein Teil der
Kinder den Hof verlässt, um sich zu verselbständigen. Diese Periode ist allerdings
weniger gefahrvoll, weil ihr mit der Hofübergabe an den Anerben ein Ende gesetzt
werden kann. Mit dem Eintritt des Jungbauern in seine Rechte findet die Schicksals-
kurve ihren Abschluß und leitet auf eine neue Bauerngeneration über [Hervorhebun-
gen im Original].“14
Für dieses Allgemeingültigkeit beanspruchende Kreislaufmodell stand eine be-
sondere, besitzklassenmäßig und regional begrenzte Ausprägung bäuerlicher Be-
triebs- und Haushaltsführung Pate : der mittelbäuerliche Hof im Anerbengebiet,
das in der Zwischenkriegszeit in großen Teilen Österreichs, mit Ausnahme des
westlichen Tirols und Vorarlbergs sowie des östlichen Niederösterreichs und des
Burgenlandes, vorherrschte.15 Damit entpuppt sich der agrarökonomische Entwurf
Löhrs als Konstrukt, das sich am „Erbhof“ als dem Leitbild der nationalsozialisti-
schen Bauerntumsideologie orientierte.16 Gleichwohl erfasste er, in Anlehnung an
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937