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42 Anatomie eines „lebenden Organismus“
tapher, die sich bereits für die Konstruktion des Einzelbetriebes bewährt hatte : des
Hofes als Organismus : „Man muß die gesamte Landwirtschaft des ganzen Reiches
als einen einzigen Hof betrachten“,34 erläuterte etwa ein Hauptabteilungsleiter der
Landesbauernschaft Donauland. Die „totale“ Agrarstatistik musste die Lücke, die
zwischen dem Ganzen und dessen Teilen klaffte, schließen ; sie sollte sowohl das
gesamte „Gefüge“ der „deutschen Landwirtschaft“ abbilden, als auch gewährleis-
ten, „den Wirtschaftsablauf der landwirtschaftlichen Betriebe bis ins einzelne zu
überblicken“.35 Die herkömmlichen Methoden der Agrarstatistik konnten die
Kluft zwischen Gesamt- und Teilsicht nicht überbrücken : Einerseits erfasste die
amtliche Agrarstatistik, vor allem die landwirtschaftliche Betriebszählung, wohl
die Gesamtheit der Betriebe ab einer gewissen Mindestgröße ; sie wurde aber
wegen des Erhebungsaufwandes nur in mehrjährigen Abständen durchgeführt.
Andererseits lieferte die Buchführungsstatistik zwar monats- oder jahresaktuelle
Ergebnisse ; sie entwarf jedoch aufgrund des überaus kleinen, zugunsten größerer
Betriebe verzerrten Samples kein repräsentatives Abbild des Ganzen.36 Kurz, die
konventionelle Agrarstatistik befand sich in einem Dilemma, das nach unkonven-
tionellen Auswegen verlangte.
Wie in anderen Wirtschaftszweigen37 betrieben die Statistiker auch in der
Landwirtschaft die Lösung dieses Problems durch dezentrale, laufend berichtigte
Datensammlungen : die Hofkarten und Kreiswirtschaftsmappen der Kreisbau-
ernschaften des Reichsnährstandes. Erstmals 1937 im „Altreich“ und 1939 in der
Ostmark und im Sudetenland angelegt, erfasste die teils jährlich, teils halbjährlich
aktualisierte Hofkarte alle Landwirtschaftsbetriebe ab fünf Hektar in Nord- und
Ostdeutschland und ab zwei Hektar in Süd- und Westdeutschland nach denselben
Kriterien. Da das Statistische Reichsamt die Betriebsdaten der amtlichen Agrar-
statistik unter Hinweis auf das Statistikgeheimnis nicht zur Verfügung stellte, ging
der Reichsnährstand mit etwa 80.000 Erhebungsorganen selbst ans Werk. Die er-
hobenen Merkmale, etwa 150 pro Betrieb und Jahr, erfassten die Binnen- und Au-
ßenbeziehungen des Hofes als organisches Ganzes : die Familien- und Betriebs-
angehörigen nach Zahl, Alter und Beschäftigung ; die Kulturarten mit Angaben
über Pachtland, Einheitswert und Parzellenzahl ; die Anbauflächen und die bei den
einzelnen Fruchtarten erzielten Ernteerträge ; sonstige Bodennutzungen wie Zwi-
schenfruchtbau, Fischereiflächen oder Allmendeberechtigungen ; den Viehstand
nach Tierarten und Altersstufen einschließlich Viehumsatz, Milch- und Woller-
zeugung ; die technischen Nebenbetriebe ; die Zahl der wichtigsten Maschinen und
Geräte sowie der Anlagen zur Futtererhaltung und Düngerbereitung ; Sonderleis-
tungen des Betriebes wie Saatzucht-, Herdbuch- oder Lehrwirtschaft. Ergänzende
Einlageblätter dokumentierten Handelsdüngerverbrauch, Getreideablieferung und
Viehwirtschaft.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937