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45Die
Konstruktion des „Hoforganismus“
Die landwirtschaftliche Betriebszählung, die im Deutschen Reich am 17. Mai
1939 im Rahmen der Volkszählung durchgeführt wurde, begegnete in Niederdo-
nau wie in anderen Reichsgauen einer immensen Vielfalt landwirtschaftlicher Nut-
zungsweisen. Um darin Ordnung zu schaffen, trafen die amtlichen Statistiker eine
voraussetzungs- und folgenreiche Unterscheidung zwischen Betrieben und Nicht-
Betrieben : Als Betrieb galt eine Wirtschaftseinheit von mindestens einem halben
Hektar ; darunter liegende Wirtschaftseinheiten galten als Kleinflächen. Nur ers-
tere fanden Eingang in die Ergebnisse der Betriebszählung ; letztere blieben davon
ausgeklammert. Die Statistiker betonten allerdings die „nicht zu unterschätzende
soziale Bedeutung“ der oft für Wein- und Gartenbau sowie Tierhaltung49 genutz-
ten Kleinflächen, die mit 16.356 Hektar zwar nur 0,7 Prozent der Gesamtfläche,
mit 127.770 Stück aber immerhin 39,2 Prozent der Gesamtzahl der Wirtschafts-
einheiten Niederdonaus ausmachten. Zusammen mit den eigentlichen Betrieben
wurden sie als „Betriebe im weiteren Sinn“ bezeichnet. Die „Wirtschaftseinheit“
des Betriebes im engeren oder weiteren Sinn wurde entsprechend der Organis-
mustheorie definiert : Im Unterschied zum Belegenheitsprinzip früherer Boden-
nutzungserhebungen, das die Teilflächen eines Betriebs der jeweiligen Gemeinde
zuordnete, orientierte sich die aktuelle Betriebszählung am Wirtschaftsprinzip, das
die gesamte Betriebsfläche jener Gemeinde, von der aus die Bewirtschaftung er-
folgte, zuzählte. Sinngemäß war für die Wirtschaftseinheit nicht das grundbücher-
lich eingetragene Eigentum, sondern der tatsächlich genutzte Grundbesitz aus-
schlaggebend. Folglich schlugen die Statistiker in der Regel verpachtete Flächen
dem Betrieb des Pächters zu, während sie gepachtete Flächen vom Betrieb des
Verpächters abzogen – jedoch mit einer Ausnahme : Das Deputatland, das Land-
arbeiter als Teil ihrer Entlohnung selbst bewirtschafteten, zählte zum Betrieb des
Arbeitgebers.50
Die tabellarische, mit Kommentaren versehene Darstellung der Betriebszäh-
lungsergebnisse folgte einer Gliederung, die von den naturalen zu den sozialen Ele-
menten des Betriebssystems fortschritt : Nach Anzahl und Ausmaß der Betriebe
wurden Bodennutzung und Viehhaltung dargestellt ; darauf folgten Darstellungen
der Maschinenverwendung, der Besitz- und Deputatverhältnisse sowie schließlich
des Betriebspersonals. Dabei tat sich ein Widerspruch auf : Die Organismus-Me-
tapher hätte erfordert, die Wechselwirkung der Teile des Ganzen aufzuzeigen ; in
der Darstellung wurden diese Teile jedoch voneinander getrennt, in eigene Tabel-
len gegossen und gesondert kommentiert. Die amtlichen Statistiker versuchten,
diesen Widerspruch durch die Konstruktion von Betriebstypen – des Zwergbetrie-
bes mit unter zwei Hektar Betriebsfläche, des kleinbäuerlichen Betriebes mit zwei
bis unter fünf Hektar Betriebsfläche, des mittelbäuerlichen Betriebes mit fünf bis
unter 20 Hektar Betriebsfläche, des großbäuerlichen Betriebes mit 20 bis unter
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937