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50 Anatomie eines „lebenden Organismus“
sich Regionen kleinbetrieblichen Zuschnitts mit Schwerpunkt auf Acker- und
Weinbau sowie Pferde- und Schweinehaltung. Am rechten Pol finden wir groß-
betrieblich geprägte Regionen mit akzentuierter Rinderhaltung sowie Grünland-
und Forstwirtschaft. Die senkrechte und mit 30 Prozent zweitwichtigste Raumdi-
mension bezeichnet Größe und Zusammensetzung der Arbeitskräftebasis oder, in
zeitgenössischer Diktion, die Arbeitsverfassung. Dem unteren Pol streben Regionen
mit geringem Arbeitskräfte- und Viehbesatz sowie hohen Anteilen nichtständiger
Arbeitskräfte zu. Am oberen Pol konzentrieren sich Regionen mit Spitzenwerten
an AKE und GVE sowie hohen Gesindeanteilen ; zudem erreichen hier auch die
Maschinenbestände, vor allem hinsichtlich der Kleinmotoren, ihr Maximum.
Die vier Pole der beiden Dimensionen und ihre paarweisen Kombinationen
in den vier Ecken des Raumes verweisen auf Idealtypen von Agrarsystemen. Die
Kombination unterschiedlicher agrarischer Produktionsschwerpunkte und Ar-
beitsverfassungen verweist auf agrarische Ökotypen.54 Demzufolge beeinflussen
naturräumlich angepasste Wirtschaftsweisen über notwendige oder sinnvolle For-
men der Arbeitsorganisation Größe und Zusammensetzung der Haushalte. Ent-
sprechend führte im Ostalpen- und Donauraum die ganzjährige Betreuung des
Viehs zur Aufnahme außerfamiliären Gesindes ; die Arbeitsspitzen im Weinbau
erforderten außerfamiliäre Taglohnarbeit ; der jahreszeitlich schwankende Arbeits-
kräftebedarf im Getreidebau bewirkte eine Mittelstellung zwischen „Gesinde-“
und „Taglöhnergesellschaft“ ; überwiegend familienwirtschaftlich organisiert war
das Hausgewerbe. Die regional vorherrschenden Ökotypen Viehzucht, Wein- und
Getreidebau sowie Hausgewerbe konnten, teils über enge Austauschbeziehungen in
und zwischen Haushalten, mit weiteren, meist von unter- oder nichtbäuerlichen
Gruppen getragenen Ökotypen, etwa Forstarbeit, Montanwesen oder Wanderhan-
del, Verbindungen eingehen.55 Kurz, das Ökotypen-Modell stellt den Zusammen-
hang von Naturraum, Wirtschaftsweise, Arbeitsorganisation und Haushaltsform
in den Mittelpunkt ; damit bietet es einen lohnenden Ausgangspunkt für Agrar-
system-Vergleiche. Im Raum der regionalen Agrarsysteme strebt die rechte obere
Ecke dem Ökotypus Viehzucht zu, während die linke untere Ecke zu den Ökoty-
pen Getreide- und Weinbau tendiert.
Zwischen den Idealtypen der Agrarsysteme im Allgemeinen und den Ökotypen
im Besonderen sind die 24 Kleinregionen angeordnet ; sie markieren reale Ausprä-
gungen von Agrarsystemen. Zum Vergleich projizieren wir auch vier der fünf nach
der Betriebsfläche klassifizierten Betriebstypen in den Raum ;56 die Großbetriebe,
die aufgrund ihrer extremen Ausprägungen im (unter-)bäuerlichen Agrarsystem-
Raum als Ausreißer erscheinen, bleiben vorerst außer Acht und werden später als
Raum für sich betrachtet. Die Kleinregionen verteilen sich nicht gleichmäßig im
Agrarsystem-Raum, sondern ballen sich an verschiedenen Stellen zusammen ; dar-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937