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80 Anatomie eines „lebenden Organismus“
darauf, in die innerbetriebliche Dynamik Einblick zu gewinnen. Dazu bedarf es be-
triebsbezogener Unterlagen. Es war bisher als ein Mangel zu empfinden gewesen, dass
man zur Gewinnung solcher betriebsbezogener Unterlagen in der Hauptsache auf die
verhältnismäßig gut geführten Betriebe der verschiedenen Buchstellen angewiesen
war, die aber kein geschlossenes Bild über die Betriebsverhältnisse einer Landschaft
[Hervorhebung im Original] vermitteln konnten. Diesem Mangel ist mit der Einfüh-
rung der sogenannten Hofkarte durch den Reichsnährstand abgeholfen worden.“119
An die Stelle einer „bloß strukturellen“ tritt hier eine „dynamische“ Agrarstatistik.
Während erstere „verhältnismäßig starre regionale Querschnitte“ liefere, beleuchte
letztere die „innerbetriebliche Dynamik“, die „gegenseitige Kombination von Bo-
dennutzungsformen und Viehhaltungsrichtungen“.120 In dieselbe Kerbe schlug
der Leiter der Forschungsstelle für landwirtschaftliche Raumforschung in Breslau,
Friedrich Walter :
„Bisher galt die ‚Massenbeobachtung‘ als eine wesentliche Aufgabe der Statistik. Das
Aufgliedern der Einzelfälle in wirklich zusammengehörige Gruppen und das gleich-
zeitige Aussondern ungewöhnlich gelagerter Fälle gestattet im Gegensatz dazu einen
besseren Einblick. Aber erst das eingehende Durchprüfen der Einzelfälle schafft volle
Klarheit und lässt gleichzeitig die Zusammenhänge erkennen. Das aber ist die For-
derung, die an die Statistik der Zukunft gestellt werden muß, die organischen Zu-
sammenhänge zu wahren und sichtbar zu machen. Es wird Zeit, daß die biologische
Betrachtungsweise einsetzt.“121
Der Weg von der Durchschnitts- zur Streuungsstatistik, den die zeitgenössische
Agronomie zur politisch-ökonomischen Steuerung des Agrarsystems skizzierte,
führt uns auch zur nachträglichen De- und Rekonstruktion. Angesichts der Masse
an rund 100.000 Hofkarten-Betriebe und ebenso vielen in Listen erfassten Be-
triebe unter fünf bzw. zwei Hektar in Niederdonau ist es jedoch erforderlich,
Untersuchungsregionen auszuwählen. Neben der pragmatischen Anforderung,
der Verfügbarkeit von Hofkarten, folgt die Auswahl einer grundsätzlichen An-
forderung : Die Untersuchungsregionen sollen die Streuung von Agrarsystemen
in Niederdonau bestmöglich abdecken ; dies ist – zwar mit Abstrichen, aber doch
weitgehend122 – gewährleistet. Dementsprechend fällt die Wahl auf 14 Ortsge-
meinden aus drei unterschiedlichen Regionen Niederdonaus : Finsternau, Groß-
radischen, Haugschlag, Heidenreichstein, Hirschenschlag und Loimanns im AGB
Litschau des Landkreises Gmünd ; Bischofstetten, Plankenstein, St. Gotthard, St.
Leonhard am Forst und Texing im AGB Mank des Landkreises Melk ; Auersthal,
Raggendorf und Weikendorf im AGB Matzen des Landkreises Gän sern dorf (Ab-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937