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103Im
Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens
deckt, lautet die Rangreihe Gemeinde vor Betriebstyp, Haupterwerbszweig, Vieh-
intensität und Größenklasse. Damit verfügen wir über eine datenbasierte (Re-)
Konstruktion von Agrarsystemen, die sowohl der Struktur- als auch der Praxisab-
hängigkeit (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens Rechnung trägt. Das Element, das
die Betriebsleiter/-innen am wenigsten beeinflussen konnten – die Lage im Natur-
und Verkehrsraum –, spielt insgesamt nur eine Nebenrolle. Hauptsächlich wirken
Elemente, die zwar in hohem Maß von historischen und geographischen Strukturen
bestimmt waren, jedoch stärker von der bäuerlichen Wirtschaftspraxis abhingen :
die Flächenausstattung und die Bodennutzung. Dahinter folgen mit dem Einsatz
von Maschinen und Arbeitskraft pro Flächeneinheit sowie der Beschäftigung fami-
lienfremder Personen auf dem Hof Elemente, die weitgehend den Entscheidungen
der Betriebs- und Haushaltsführung unterlagen. Damit lässt sich die Agrarraum-
Konstruktion des Reichsnährstandes, in der die „individuellen Besonderheiten“ der
bäuerlichen Wirtschaftsführung als „belanglos“ galten,149 dekonstruieren ; in unse-
rer (Re-)Konstruktion ist die praktische Aneignung der natur- und sozialräumli-
chen Strukturen durch die Akteure in hohem Maß von Belang.
Die waagrechte und wichtigste Dimension wird durch die Spannungsmomente
arbeitsintensiv bzw. -extensiv, maschinenextensiv bzw. -intensiv, Familienwirt-
schaft bzw. Gesinde- und Taglöhnerbeschäftigung, Klein- bzw. Großbetrieb sowie
Neben- bzw. Haupterwerbsbetrieb bestimmt. Wir erkennen insgesamt ein Intensi-
täts- und Größenprofil, dessen beide Pole in Richtung arbeitsintensiver Klein- bzw.
kapitalintensiver Großbetriebe auseinanderstreben. Die senkrechte und zweit-
wichtigste Dimension wird durch die Spannungsmomente reine und gemischte
Weinbauwirtschaften bzw. Hackfrucht-, Getreide- und Futterwirtschaften, Mat-
zen bzw. Mank und Litschau, viehextensiv bzw. -intensiv, kleiner bzw. großer V/A-
Quotient sowie Lohnarbeit in bzw. außerhalb der Land- und Forstwirtschaft be-
stimmt. Sie entpuppt sich als Produktionsschwerpunkt und strebt den gegenläufigen
Polen Marktfruchtbau bzw. Mischwirtschaft zu. Wie die vier Pole der beiden Di-
mensionen verweisen auch ihre vier paarweisen Kombinationen in den Ecken des
Raumes auf Idealtypen von Agrarsystemen : den kapitalintensiven Großbetrieb mit
Mischwirtschaft rechts oben, den kapitalintensiven Großbetrieb mit Marktfruchtbau
rechts unten, den arbeitsintensiven Familienkleinbetrieb mit Marktfruchtbau links
unten und den arbeitsintensiven Familienkleinbetrieb mit Mischwirtschaft und Ne-
benerwerb, links oben (Abbildung 2.19).
Dass diese idealtypischen Ausprägungen (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens
dem NS-Agrarapparat nicht gleichermaßen als ‚ideal‘ erschienen, zeigt rückbli-
ckend Heinz Haushofer, ehemals Leiter der Wirtschaftsabteilung beim Reichs-
statthalter in Niederdonau : „Besonders die Bauernschaft in den Weinbaugebieten
um Wien war markterfahren und stadtnah und fern aller Romantik, so dass einer
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937