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118 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Landkreise Lilienfeld (56,9 Prozent), Baden (53,7 Prozent) und Scheibbs (45,1
Prozent), im gebirgigen Süden des Reichsgaus gelegen, waren flächenmäßig am
stärksten durch Großbetriebe geprägt (Abbildung 2.23). Dazu zählten einerseits
Forstgüter, die Hunderte oder Tausende von Hektar umfassten, andererseits die
Vielzahl großbäuerlicher Betriebe, die auf Grund reichlicher Waldausstattung die
100-Hektar-Grenze mehr oder weniger klar übertrafen. Da sich weder die land-
wirtschaftliche Betriebszählung noch die Buchführungsstatistik für die Erfassung
der Gutsbetriebe eignen, führen einmal mehr die Hofkarten weiter. In den Un-
tersuchungsgemeinden in den Regionen Litschau, Mank und Matzen finden sich
zwei Großgrundbesitzungen : das der Adelsfamilie Pálffy gehörende Gut Heiden-
reichstein mit 3.497 Hektar Kulturfläche, fast zur Gänze Wald,173 und das Gut
des Benediktinerstiftes Melk in Weikendorf mit 132 Hektar landwirtschaftlicher
und 423 Hektar forstwirtschaftlicher Nutzfläche174. Zusätzlich zu Weikendorf lie-
gen die Hofkarten von weiteren 36 Gutsbetrieben im Landkreis Gän sern dorf vor.
Obwohl hier 1939 mit 79 Fällen mehr als doppelt so viele Großbetriebe gezählt
wurden,175 ermöglichen die 37 dokumentierten Fälle dennoch eine Nahaufnahme
gutsbetrieblicher Agrarsysteme.
Die natur- und verkehrsräumliche Lage der Gän sern dorfer Gutshöfe lässt einige
Schwerpunkte erkennen. Unter den Betrieben im südlichen Teil, dem zum Panno-
nischen Flachland gehörenden Kleinproduktionsgebiet Marchfeld, überwogen die
Hackfruchtwirtschaften. Dagegen waren im nördlichen Teil, dem Pannonischen
Hügelland zugezählten Kleinproduktionsgebiet Weinviertel und Horner Becken,
die Getreidewirtschaften in der Überzahl ; zudem konzentrierten sich hier die Fut-
terwirtschaften. Neben den Bodennutzungsformen zeigen auch die Kulturflächen-
größen regionale Unterschiede : Während im Süden viele Gutshöfe
– an der Spitze
das Gut Eckartsau mit 3.706 Hektar – im oberen Bereich rangierten, befanden
sich die nördlich gelegenen Gutshöfe – mit dem 111 Hektar zählenden Gut Loi-
desthal als Schlusslicht – überwiegend auf den unteren Stufen der Größenskala.
Abgesehen vom 1.139 Hektar großen Forstgut in Großschweinbarth bestanden
in den Weinbaugemeinden keine Gutshöfe. Diese regionalen Unterschiede hingen
zweifellos mit der Natur- und Verkehrslage zusammen. So folgten die Forstgüter,
etwa das in den Donauauen gelegene Gut Eckartsau, sowie die Weinbau treiben-
den Landgüter im Hügelland in ihrer Ausrichtung auch den lokalen Klima-, Bo-
den- und Reliefbedingungen. Weiters mochten für die Hackfruchtwirtschaften die
kurzen Wegstrecken zu den drei Zuckerfabriken im Landkreis Gän sern dorf den
arbeits- und kapitalintensiven Zuckerrübenbau – einen Vorboten des Schwenks
zur industrialisierten Hochleistungslandwirtschaft in der Nachkriegsära176 – be-
günstigt haben. Unterschiede bestanden zwischen Leopoldsdorf, wo, gleich den
„Thünenschen Ringen“,177 rund um den Fabriksstandort ein gutsbetrieblicher
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937