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135Durchleuchtete
Höfe
der durch Erbteilung und zwangsweisen, notgedrungenen Abverkauf der Äcker auf
ein heute nur bei Nebenverdienst lebensfähiges Ausmaß zusammenschmolz“208)
oder Aufstieg („fleißige, bescheidene Familie, ehemalige landwirtschaftliche
Dienstboten, die sich durch Fleiß und Sparsamkeit den Hof erworben haben“209),
jahrelanger Konsumverzicht („sparsame und fleißige Bergbauern, die ihren Hof
schuldenfrei erhalten haben“210) oder eine kurz zurückliegende Betriebsübernahme
(„Der Betrieb arbeitet unter schwierigen Erzeugungsbedingungen, doch ist er vom
sparsamen Besitzer, der ihn erst vor kurzer Zeit übernahm, gut und in Ordnung
geführt.“211). Vor allem für Zwerg- und kleinbäuerliche Betriebe, wie etwa eine
Zwei-Hektar-Grünlandwirtschaft in Hirschenschlag im AGB Litschau, erschien
der landwirtschaftliche oder gewerbliche Nebenerwerb als fixer Teil der bäuerli-
chen Existenz : „Fleißige, bescheiden lebende Kleinhäusler. Tochter ist hier Stri-
ckerin. Vater fallweise als Taglöhner in der Landwirtschaft tätig.“212 Dabei stellte
sich häufig das Problem, die unklare Grenze zwischen „bäuerlich“ und „nichtbäu-
erlich“ zu bestimmen ; denn Zwergbetriebe unter einem halben Hektar waren von
Amts wegen nicht zur Entschuldung vorgesehen.213 Sachbearbeiter, die in derarti-
gen Grenzfällen für die Durchführung der Entschuldung plädierten, mussten ihr
Urteil entsprechend begründen, wie etwa für eine Sechs-Hektar-Futterwirtschaft
in Eggern im AGB Litschau : „Die arme Wirtschaft bildet die Existenzgrundlage
der kinderreichen Familie, ist aber mit ihren dürftigen Erträgen ungenügend zur
Erhaltung der Familie. Deswegen muss der Mann als Taglöhner Geld zuarbeiten.
Die Familie ist als bäuerlich zu betrachten.“214 So gesehen, erscheint die Betriebs-
besichtigung im Rahmen der Entschuldungsaktion als Machtdispositiv des herr-
schenden Agrardiskurses : Indem die Gutachten der Sachbearbeiter die abstrakten
Grenzen ‚der Landwirtschaft‘ am jeweiligen Fall konkretisierten, konstruierten sie
den zu beurteilenden Gegenstand – den Hof als gegenüber seiner Umwelt abge-
grenzten Organismus – mit.
Die dem Landwirtschaftsstil der bäuerlichen Zähigkeit entsprechenden Höfe
häuften sich in der Voralpenregion Kirchberg an der Pielach sowie in der Flach-
und Hügellandregion Matzen. Diese Häufungen hingen mit für diesen Stil charak-
teristischen Betriebstypen – Grünlandwirtschaft einerseits, Hackfrucht-Weinbau-
und Weinbauwirtschaft andererseits – zusammen. Was diese unterschiedlichen
Agrarsysteme einte, war die überdurchschnittliche Empfindlichkeit gegenüber Kli-
maeinflüssen. Sowohl in der alpinen Acker- und Wiesenbewirtschaftung, als auch
im pannonischen Weinbau musste bei Unwettern mit weitgehenden bis vollstän-
digen Ernteausfällen gerechnet werden. Die von den Sachbearbeitern festgestellte
Zähigkeit der Betriebsinhaber/-innen speiste sich wohl auch aus der jahre- und
jahrzehntelangen Erfahrung im Umgang mit witterungsbedingten Schäden.215
Es handelte sich häufig um klein- und mittelbäuerliche Betriebe zwischen zwei
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937