Seite - 137 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 137 -
Text der Seite - 137 -
137Durchleuchtete
Höfe
kollen mit wechselnden Gesichtern auf : Einerseits wurde ihm ein Aktivitätsdefizit
in Form von Unfähigkeit – „unbeholfen“, „schwerfällig“ und „antriebslos“ – oder
Unwille – „bequem“ und „nachlässig“ – angekreidet. Andererseits bestand sein
Fehler in einem Aktivitätsüberschuss, der als „spekulativ“ charakterisiert wurde.
Folglich forderten die Sachbearbeiter in all diesen Fällen häufig die „Betreu-
ung“ – die strenge Überwachung, Anleitung und, nötigenfalls, Bestrafung – der
Betriebsleiter/-innen durch den Reichsnährstand. Nur selten fiel die Beurteilung
dermaßen eindeutig und ablehnend aus wie im Fall einer 35-Hektar Futterwirt-
schaft in Plankenstein :
„Der Besitzer ist ein schlechter, nachlässiger Wirtschafter. Die Wirtschaft ist ver-
nachlässigt, das Vieh ungepflegt und schlecht genährt. Die Wohnung ist schmutzig
und verwahrlost, gebrochene Fensterscheiben sind nicht ersetzt. Die Scheunen- und
Schuppentore lehnen an der Wand, da die Angeln abgerostet sind. Schäden, welche
mit geringen Mitteln hätten behoben werden können, wurden wegen der Faulheit
und Schlamperei des Besitzers vernachlässigt. Der Besitzer hat durch dauernd hohe
Schlägerungen den Bestand der Wirtschaft gefährdet. 1940/41 hat er 250 [Fest-]
Meter Holz geschlagen und dafür RM 3.550 eingenommen, womit er einen Großteil
seiner Schulden hätte bezahlen können. Stattdessen hat er seinen Neffen RM 1.700
geliehen, den Rest von RM 1.850 angeblich zur Schuldenzahlung verwendet. Da aber
dem am 31.12.1938 angegebenen Schuldenstand von RM 5.336,39 ein derzeitiger
Schuldenstand von RM 5.236,03 gegenüber steht, somit nur eine ganz geringfügige
Schuldenverringerung eingetreten ist, bleibt die Verwendung der Restsumme völlig
ungeklärt. Aus obigen Gründen wird Ablehnung beantragt.“218
Die mangelnde „Entschuldungswürdigkeit“ des Betriebsinhabers gründete sich in
den Augen des Sachbearbeiters auf zwei Defizite : die Nachlässigkeit im Umgang
mit dem Vieh und den Gebäuden sowie die Böswilligkeit im Umgang mit den
Schulden. Der Stein des Anstoßes, die Verweigerung von Tilgungs- und Zinsen-
zahlungen unter dem Schutz des amtlichen Vollstreckungsschutzes während des
Entschuldungsverfahrens,219 zog in diesem Fall auch an sich gesetzeskonforme
Wirtschaftsstrategien bäuerlicher Hofbesitzer/-innen in Misskredit : die Wald-
nutzung zur Bewältigung außergewöhnlicher Belastungen und das Verleihen von
Geld unter Verwandten. Durch die Zuschreibung von Nachlässigkeit und Böswil-
ligkeit konnte der Sachbearbeiter den ‚Entschuldungsunwürdigen‘ – in Differenz
zur Norm der „Entschuldungswürdigkeit“ – identifizieren.
Abgesehen von derartigen Ausnahmefällen fielen die Urteile der Sachbearbeiter
über bäuerliches Fehlverhalten in der Regel weitaus mehrdeutiger und wohlwol-
lender aus. Positiv verbucht wurde meist der Fleiß der Antragsteller/-innen ; auf
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937