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140 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Nicht nur außergewöhnliche Unglücksfälle, sondern auch alltägliche Kleinkriege
zwischen Familienangehörigen lähmten die Wirtschaftsführung. Sie konnten
sich in der halböffentlichen Sphäre eines Gerichtsverfahrens über Jahre hinzie-
hen : „Besitzer ist wenig energisch, ist kriegsbeschädigt und Witwer, Frau vor drei
Jahren gestorben. Seither gerichtliche Auseinandersetzungen mit den zwei älteren
Söhnen.“240 In der familiären Privatsphäre schwelten solche Konflikte, die häufig
zwischen den Ehegatten oder Schwiegereltern und Schwiegerkindern aufbrachen,
mitunter Jahrzehnte lang. Im folgenden Fall wurde die bäuerliche Betriebsführung
dadurch dermaßen beeinträchtigt, dass der Sachbearbeiter auf Abweisung des An-
trags plädierte :
„Der Besitzer der in die gänzlich vernachlässigte, unsaubere Wirtschaft eingeheiratet
hat, ist zwar fleißig und sparsam, doch kein energischer und tüchtiger Wirtschafter.
Die Frau hält zu ihren Eltern, Ausgedinger, die stets kränklich sind und die Wirt-
schaft ganz heruntergebracht haben ; sie hindern den Besitzer an jedweder Verbes-
serung der Wirtschaft. Die Wirtschaftsgebäude sind gänzlich verfallen und müssten
neu erbaut werden. Die Felder wurden schlecht gepflegt, der Ertrag ist gering. Bei der
Energielosigkeit des Bauern besteht keinesfalls die Gewähr, dass sich diese Zustände
in absehbarer Zeit wesentlich ändern. Unter diesen Umständen wird der Antrag auf
Entschuldung und Aufbau abgelehnt.“241
Manchmal sahen die Sachbearbeiter den Grund für Fehlverhalten schlichtweg
in der Wirtschaftsauffassung der Inhaber/-innen : „Die Wirtschaftsführung ist
schlampig, der Viehstand zu klein, und hat den Anschein, dass nur deshalb kein hö-
herer Stand vorhanden ist, um weniger Arbeit zu haben. Die Wirtschaft ist in guter
Lage und kann bei entsprechender Nachhilfe durch Betreuung eine gute und si-
chere Leistung erbracht werden.“242 Was aus amtlicher Sicht vor allem als Sabotage
an der „Erzeugungsschlacht“ erscheinen mochte – ein zu kleiner Viehstand, eine
zu geringe Ackerfläche, ein zu spärlicher Einsatz von Handelsdünger –, bedeutete
für die beurteilten Betriebsinhaber/-innen wohl eher einen erfahrungsgesättigten
Umgang mit knappen Ressourcen. Weniger Profitmaximierung, als vielmehr Risi-
kominimierung und Mußepräferenz bestimmten die bäuerlichen Wirtschaftsstile
im Rahmen der auf Selbstversorgung ausgerichteten Familienbetriebe243 – eine
Logik, die von Amts wegen als Fehlverhalten erschien, im bäuerlichen Alltag je-
doch als bewährtes Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster Sinn stiftete.
Trotz der bisweilen harschen Kritik argumentierten die Sachbearbeiter in der
überwiegenden Zahl der Fälle bäuerlichen Fehlverhaltens für die Durchführung
des beantragten Entschuldungsverfahrens. Im Sinn des angekündigten „Wieder-
aufbaus der Ostmark“ auf landwirtschaftlichem Gebiet erschien es zielführender,
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937