Seite - 144 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 144 -
Text der Seite - 144 -
144 Anatomie eines „lebenden Organismus“
junge Bauer hat eingeheiratet, die Schulden übernommen und müht sich, die Wirt-
schaft ertragreicher zu gestalten.“ 261 Neben der Intensivierung werteten die Sach-
bearbeiter auch die Betriebsvergrößerung als beispielhaft : „eine sehr fleißige und
fortschrittliche Familie, die das Bestreben hat, ihre Wirtschaft zu vergrößern“.262
Vielfach bot erst das Entschuldungs- und Aufbauverfahren die Möglichkeit, die
angestrebte Betriebsvergrößerung umzusetzen ; in einem Fall argumentierte der
Sachbearbeiter sogar, anstatt des bestehenden, zu kleinen Betriebes einen neuen,
größeren Betrieb
– im Hinblick auf die Schaffung eines Erbhofes abseits der engen
Dorfsiedlung – unter Einsatz öffentlicher Mittel anzukaufen :
„Eine rationelle Bewirtschaftung ist durch die kleine Hofstelle ganz unmöglich. Im
Interesse der allgemeinen Ernährungslage ist die Förderung des äußerst tüchtigen
und fortschrittlichen Bauern zur Erlangung eines Erbhofes bestens zu befürworten.
Da Eigenmittel zur Vergrößerung der Hofstelle zu einem Erbhof nicht vorhanden,
wird eine Reichsbeihilfe nach Art. IV (Neuansiedlung) bestens befürwortet (Dorfauf-
lockerung !).“263
Doch die bäuerliche Mustergültigkeit hing im Urteil der Sachbearbeiter nicht nur
von materiellen Umständen ab ; zudem hoben eine Reihe ideeller Eigenschaften
die Ausgezeichneten vom Rest der Hofbesitzer/-innen ab. Dazu zählte etwa die
fachliche Kompetenz : „tüchtiger, fortschrittlicher, in allen Zweigen der Land-
wirtschaft gut unterrichteter Mann ; fleißige Bäuerin“.264 Vereinzelt finden sich
Hinweise auf eine landwirtschaftliche Fachschulbildung : „allerbester Eindruck,
Ackerbauschule Feldsberg, Ortshofberater“.265 Zur amtlich sanktionierten Fach-
kompetenz zählten auch Tugenden wie die Rechenhaftigkeit : „vorzüglich wirt-
schaftend, was in dieser Gegend [Eggern im AGB Litschau] selten ist, scharfer
und guter Rechner, energisch, erbgesunder Nachwuchs, gut erzogen“.266 Auffallend
häufig besetzten als mustergültig bewertete Hofbesitzer/-innen öffentliche Ämter,
die der „Entschuldungswürdigkeit“ förderlich waren : „Die Würdigkeit der staatli-
chen Unterstützung ist in jeder Beziehung gegeben, da Antragsteller Ortsbauern-
führer ist und beispielgebend wirtschaftet.“267 Zu den ideellen Eigenschaften, die
den Sachbearbeitern berichtenswert erscheinen, zählten schließlich vermeintliche
Einstellungen, die dem Bauern als „Ernährer und Blutsquell des Volkes“ im offi-
ziellen Diskurs zugeschrieben wurden. Eine dieser als genuin bäuerlich erachte-
ten Vorstellungen war die „Hofbindung“, die Familien und Höfe oder, ideologisch
gesprochen, „Blut und Boden“ aneinander kettete : „Es handelt sich hier um eine
gut wirtschaftende, brave Familie, die mit großer Liebe an ihrem Besitz hängt.“268
Jenseits des ideologischen Nebels, den diese Vorstellung umwehte, offenbart der
Vermerk im Besichtigungsprotokoll zugleich ein Moment familienwirtschaftlicher
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937