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146 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Gesinde- und Taglöhneranteile. Die insgesamt 6,8 AKE entsprachen einer un-
terdurchschnittlichen Arbeitsintensität von 0,2 AKE pro Hektar. Der beachtliche
Viehstand, zusammen 18,0 GVE, umfasste zwei Pferde, 16 Rinder, davon zehn
Kühe, 13 Schweine, darunter eine Zuchtsau und fünf Mastschweine, und 50 Hüh-
ner. Aufgrund der großen Nutzfläche erreichte die Viehintensität mit 0,6 GVE pro
Hektar nur unterdurchschnittliches Niveau. Auch der Maschinenpark konnte sich
sehen lassen : je ein Elektro- und Verbrennungsmotor, eine Drillmaschine, je eine
Stiften- und Breitdreschmaschine und eine Häckselmaschine, was einem Neuwert
von 2.335 Reichsmark und einer durchschnittlichen Maschinenintensität von 76
Reichsmark pro Hektar entsprach. Da die Eltern der Bäuerin im Ausgedinge leb-
ten und ein Neugeborenes zu versorgen war, stieg der V/A-Quotient auf das durch-
schnittliche Niveau von 1,76 Personen. Die Betriebseinnahmen setzten sich vor
allem aus dem Verkauf von Zuckerrüben, Getreide und Milch, weiters von Wein,
Rindern, Schweinen, Pferden und Geflügel zusammen. Abzüglich der Betriebs-
ausgaben und der Haushaltskosten verblieben dem und der Betriebsinhaber/-in
1.650 Reichsmark zur weiteren Verwendung. Der Sachbearbeiter ließ seiner Wert-
schätzung des Paares, vor allem des Mannes, freien Lauf : „ein junger, intelligenter,
fortschrittlicher Bauer, tüchtiger Wirtschafter, gesunde Bauernfamilie, Eindruck
sehr gut, […] ein intensiv geführter, sauberer landwirtschaftlicher Betrieb“. Ergän-
zend wies er darauf hin, dass der Jungbauer eingeheiratet und die Schulden über-
nommen habe ; seither bemühe er sich, „die Wirtschaft ertragreicher zu gestalten“.
Das Attribut „gesunde Bauernfamilie“ bezog sich wohl auch auf den neugeborenen
Sohn ; er trug, wie sein Vater, den Vornamen Anton.270
Während sich die Figuren des zähen, fehlgeleiteten und vorbildlichen Bauern klar
voneinander abhoben, verschwammen die Konturen des arbeitsamen und fleißigen Bau-
ern. Sie bezeichneten die Mitte des Spektrums, den Normalfall, den ‚Durchschnitts-
bauern‘ – oder, amtlich gesprochen, die „ordnungsmäßige Wirtschaftsführung“271.
„Arbeitsam“ oder „fleißig“ zu sein, wurde fast drei Vierteln der Antragsteller/-innen
zugestanden. Diese Eigenschaften verwiesen, wenn auch vermittelt durch die Brille
des Sachbearbeiters, auf familienwirtschaftliche Strategien im Umgang mit der oft
jahrelangen Schuldenlast. Entgegen der kapitalistischen Logik, bei fallender Rente
aus einem Unternehmen auszusteigen, verblieben die Kleinhäusler- und Bauern-
familien während der Agrarkrise seit Anfang der 1930er Jahre und – wenn auch
personell dezimiert durch die 1938 einsetzende Abwanderungswelle – nach dem
„Anschluss“ auf ihren überschuldeten Höfen.272 Mehr noch, mit abnehmendem Fa-
milieneinkommen steigerten viele von ihnen ihre Anstrengungen und senken ihre
Ansprüche. Überarbeit und Unterkonsum erscheinen als Teil des familienwirtschaft-
lichen Habitus. Die Einschätzung des Inhabers eines mittelbäuerlichen Betriebes in
Bad Pirawarth steht für viele Hofbesitzer/-innen : „Rüstiger Bauer, die Familie mit
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937