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150 Anatomie eines „lebenden Organismus“
schied regionale Produktionsgebiete. Jede dieser Perspektiven offenbart die enorme
Vielfalt der Agrarsysteme im niederösterreichischen Raum : von den Hackfrucht-
Weinbauwirtschaften des Flach- und Hügellandes bis zu den Grünland-Wald-
wirtschaften der Voralpen. Diese Agrarsysteme zeichneten sich durch je eigene
Zusammenhänge der einzelnen Elemente aus. So etwa legt etwa das Ökotypen-
Modell das Augenmerk auf Arrangements von Betriebszweig, Arbeitsorganisation
und Haushaltsform. Das Familienwirtschafts-Modell stellt die Abhängigkeit der
Betriebsführung von den Versorgungsbedürfnissen des Familienhaushalts in den
Mittelpunkt. Keines dieser in der Forschung bewährten Modelle vermag die Ag-
rarsysteme auf dem Gebiet Niederdonaus in ihrer Gesamtheit für sich allein zu fas-
sen ; doch als Teilperspektiven ergänzen sie einander bis zu einem gewissen Grad.
Betriebszählungs-, Buchführungs- und Hofkartenstatistik haben, trotz unter-
schiedlicher Perspektiven, eines gemein : Sie entwerfen ‚die Landwirtschaft‘ nach
amtlich festgesetzten Kategorien auf aggregierter Ebene ; auf diese Weise verein-
fachen sie ihren Gegenstand, um ihn besser regulieren zu können. Demgegen-
über erlauben disaggregierte Daten eine komplexere Bestimmung betrieblicher
Agrarsysteme nach alltagsnäheren Kategorien ; dabei wird ein vielfältiges Merk-
malsbündel (Land- und Viehnutzung, Betriebs- und Haushaltsangehörige, Ma-
schinenausstattung usw.) zugrunde gelegt. Auf Basis der Hofkarten-Daten für die
Regionen Litschau, Mank und Matzen aus unterschiedlichen Produktionsgebieten
Niederdonaus lassen sich zehn (unter-)bäuerliche Agrarsysteme unterscheiden :
Zuckerrübenbauern, Maschinenmänner, Mischwirtschafter, Ochsenbauern, Gewerbe-
bauern, Arbeiterbauernfamilien, Nebenerwerbsbauernfamilien, Weinhauerfamilien,
Kleinbauernfamilien und Ackerbäuerinnen. Die wesentlichen Unterscheidungsmo-
mente der (unter-)bäuerlichen Agrarsysteme sind das Intensitäts- und Größen-
profil einerseits, der Produktionsschwerpunkt andererseits. Im Kreis Gän sern dorf
heben sich vier gutsbetriebliche Agrarsysteme voneinander ab : Gesinde-Maschi-
nengüter, Taglöhner-Maschinengüter und Getreide-Milchviehgüter und Marktfrucht-
Milchviehgüter. Die wesentlichen Unterscheidungsmomente der gutsbetrieblichen
Agrarsysteme sind das Intensitäts- und Größenprofil einerseits, das Arbeitskräf-
tearrangement andererseits. Die Besichtigungsprotokolle, die im Zuge der Ent-
schuldungs- und Aufbauaktion erstellt wurden, lassen – durch die Brille des amt-
lichen Blickes – (unter-)bäuerliche Wirtschaftsstile erkennen. Für die Regionen
Kirchberg an der Pielach, Litschau, Mank und Matzen werden die Stile des zähen,
fehlgeleiteten, vorbildlichen, arbeitsamen und fleißigen Bauern fassbar. Die im Feld
der Betriebs- und Haushaltsführung nachgezeichneten Agrarsysteme und damit
korrespondierenden Landwirtschaftsstile schaffen die Grundlage für die weiteren
Kapitel dieses Buches, die zwischen Alltagswelt und NS-System aufgespannte Fel-
der des ländlichen Wirtschaftens 1938 bis 1945 vermessen.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937