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152 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
folge auch das „Tschechen-“ und „Slowakentum“ Fuß fassten. Die „Entdeutschung
dieses Grenzgürtels“ im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sei
nicht nur direkt – durch die Aneignung von Großgrund- und Bauernbesitz durch
den hinterhältigen, finanzkräftigen „Juden“ –, sondern auch indirekt – durch den
jüdisch-liberalistischen „Rentabilitätsstandpunkt“, der in der Agrarkrise seinen
Ausdruck gefunden habe – vorangetrieben worden. Gestützt auf eine „wissen-
schaftliche Bestandsaufnahme“ der Landbesitzverhältnisse im „Grenzland“ durch
eine Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Studentenschaft 19383 konnte der „völ-
kische Bodenverlust“ an der Gemeinde Untersiebenbrunn, der „gefährdetsten
Marchfeldgemeinde“, sogar mit Zahlen belegt werden (Abbildung 3.1, Anhang) :
Von 41 1860 bestehenden Bauernhöfen seien bereits 17 „gelegt“ worden ; nur noch
14 würden von „Deutschen“, acht von „Tschechen“ und einer von „Juden“ bewirt-
schaftet. Da Gemeinde und Kirche ihre Gründe verpachteten, nutzten „Deutsche“
800 Hektar oder 38 Prozent, „Tschechen“ 666 Hektar oder 33 Prozent und „Juden“
610 Hektar oder 29 Prozent der Dorfflur.4
Doch was mit der Überwältigung des „deutschen Bauern“ durch dunkle
Mächte beginnt, endet mit einem Triumph : Bauernbesitz gewinnt Volkstums-
kampf. Das positive Szenario, eine „klare, bewußte Bodenpolitik im Kampfe für
das Volkstum“, stehe nun auch in der Ostmark vor dem Durchbruch : „Für den
Schutz des deutschen Volkstums genügen nicht allein Kanonen und Stahlpanzer,
sondern dafür brauchen wir strotzendes, wachsendes Leben, das immer wieder
in einem gesunden und auf seinem Grund und Boden seßhaften Bauerntum
beruht.“ Das Beispiel des Marchfeldes zeige, „wie sich gerade die Bildung von
Großgrundbesitz auf die bevölkerungspolitische Entwicklung eines Volkes aus-
wirken kann“.5 Im proklamierten Leitmotiv – „nur der besitzt den Boden, der
ihn wirklich bebaut“
– tritt das Doppelgesicht der nationalsozialistischen Boden-
ordnung offen zutage : die Inklusion, die Förderung der „deutschen Bauern“ auf
Höfen mittlerer Größe, wie die Exklusion, die Ausmerzung des „volksfremden“
Großgrundbesitzes. Die (Wieder-)Vereinigung von „Blut“ und „Boden“ durch
die ein- und ausschließende Hand des Staates erscheint denk- und machbar
– im
Marchfeld wie anderswo.
Nicht nur im akademischen Nachwuchs, sondern auch in Teilen der kulturellen
Funktionselite Niederdonaus bildete „Blut und Boden“ ein Leitmotiv intellektu-
ellen Denkens und Handelns. Günther Schlesinger, bekennender Rassenantisemit
und seit 1923
– unterbrochen durch kurzzeitige Zwangspensionierung 1938
– Lei-
ter der niederösterreichischen Landessammlungen,6 trat im traditionsreichen Jahr-
buch für Landeskunde von Niederösterreich mit der folgenden pseudowissenschaftli-
chen Rechtfertigung einer „rassisch“ selektiven Bodenpolitik hervor :
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937