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167Regulative
der Ent- und Verwurzelung
Erbhof“ („große Abmeierung“) beschließen.87 Vor diesem Hintergrund erscheint
die Erbhofgerichtsbarkeit als Machtdispositiv, in dem sich race, class und gender als
„Achsen der Ungleichheit“ von Landbesitzrechten überschnitten.88
Bevor die Erbhofgerichtsbarkeit ihre Tätigkeit aufnehmen konnte, musste die
Erbhöferolle, das rechtskräftige Verzeichnis der Erbhöfe, angelegt werden.89 Das
Anlegungsverfahren sollte in folgender Weise ablaufen : Die Gemeinden erstel-
len von August bis Oktober 1938 ein Verzeichnis der auf ihrem Gebiet liegenden
Höfe zwischen einer „Ackernahrung“ und 125 Hektar Grundbesitz. Die Agrar-
bezirksbehörde begutachtet und übermittelt diese Liste bis Dezember 1938 dem
AEG. Der Vorsitzende des AEG leitet das Gemeindeverzeichnis an den Reichs-
nährstand weiter und erstellt das gerichtliche Verzeichnis der Erbhöfe, gegen das
die Hofeigentümer/-innen oder der Kreisbauernführer Einspruch erheben können.
Die Höfe, deren Aufnahme nicht beeinsprucht oder für die der Einspruch abge-
wiesen worden ist, werden in die Erbhöferolle eingetragen.90 Durch den überbor-
denden Arbeitsaufwand und die knappen Fristen des Anlegungsverfahrens stie-
ßen die damit befassten Behörden, vor allem die Agrarbezirksbehörde, rasch an
ihre Grenzen. So schlug die Agrarbezirksbehörde Niederdonau im November und
Dezember 1938 Alarm : Die erforderlichen Drucksorten seien viel zu spät an die
Gemeinden gelangt und ignorierten die Verhältnisse in der Ostmark, etwa die ag-
rargemeinschaftlichen Anteilsrechte, die vielfach über 125 Hektar hinausreichende
Größe der Bergbauernhöfe oder die im Jahresverlauf wechselnden Hofstellen der
Alpwirtschaft ; die von den Gemeinden vorgelegten Verzeichnisse seien teils noch
ausständig, teils aufgrund von Fehlangaben
– etwa der Erklärung von Pfarrkirchen
zu Erbhöfen – „völlig unbrauchbar“ ; die Überprüfung der eingelangten Gemein-
deverzeichnisse sei wegen der Zersplitterung der behördlichen Zuständigkeiten
auf Bezirksgerichte, Finanz- und Vermessungsämter in der kurzen Zeitspanne
ausgeschlossen. Im Sinn der Rechtfertigung der eigenen Tätigkeit sowie der In-
fragestellung der Tätigkeit anderer, in die eigenen Kompetenzen eingreifender Be-
hörden bedauerte die Agrarbezirksbehörde, „von keiner Stelle vorher gehört worden
zu sein, da sie vollkommen davon überzeugt ist, daß so manche auf Unkenntnis der
speziellen Verhältnisse in der Ostmark fußenden Irrtümer auf Grund der ihr zur Ver-
fügung stehenden langjährigen praktischen Erfahrung rechtzeitig hätten beseitigt wer-
den können [Hervorhebung im Original]“ ; zudem forderte sie zur Bewältigung des
durch GVB und REG überbordenden Arbeitsanfalls 20 zusätzliche Kräfte mit
entsprechender Ausbildung.91
Die Übertragung des bodenrechtlichen Regelwerks vom „Altreich“ auf das
„Land Österreich“ führte nicht nur innerhalb des Behördenapparats, sondern auch
im Hinblick auf die Hofeigentümer/-innen zu erheblichen Reibungsverlusten.
Ernst Spatschil, Abteilungsleiter der Landesbauernschaft Donauland, widmete
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937