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171Regulative
der Ent- und Verwurzelung
Vorteil bedacht.101 Um diese Widersprüche aufzulösen, sollten Ehegattenerbhöfe
mit Anschreibung beider Ehepartner im Grundbuch ermöglicht werden ; zudem
sollte der einheiratende Ehegatte unter Berücksichtigung der Sippenzugehörig-
keit bei der weiteren Erbfolge zum Anerben erklärt werden können ; schließlich
sollten Erbverträge unter Nichtehegatten gestattet werden, um zukünftigen Hof-
nachfolgern eine Sicherheit zu bieten. Der zweite Vorschlag betraf das Erbrecht,
vor allem die Zurücksetzung der Töchter eines Erblassers gegenüber dessen Vater
und Brüdern
– eine Bestimmung, bei der „der Widerstand der Bauernschaft in der
Ostmark am stärksten“ gewesen sei. Daher sollten die Töchter in der Anerbenord-
nung von der vierten auf die zweite Stelle
– gleich nach den Söhnen
– vorrücken.102
Diese Reformvorschläge glichen jener Denkschrift, die das Amt für Agrarpoli-
tik der NSDAP-Gauleitung Niederdonau in Zusammenarbeit mit der Landesbau-
ernschaft Donauland bereits im November 1940 an den Stellvertreter des Führers
gerichtet hatte103 – ein Hinweis auf die Allein- oder Mitautorenschaft Spatschils.
Diese Denkschrift zeigte jedoch, wie ähnlich lautende Eingaben von anderer Seite,
zunächst wenig Wirkung. Erst die Ablösung Richard W. Darrés durch Herbert
Backe an der Spitze des REM 1942 brachte Bewegung in die Angelegenheit. Die
vermehrten Todesfälle von zur Wehrmacht eingezogenen „Bauern“ verstärkten die
öffentliche Aufmerksamkeit auf die Probleme der ungenügenden Rechtsstellung
der eingeheirateten Ehegatten sowie die Zurückreihung der Frauen und Töchter
in der Erbfolge. Dies schien die politische Stimmung der bäuerlichen „Frontsol-
daten“ ebenso wie jene der mit Arbeit überlasteten Ehefrauen und Töchter an der
„Heimatfront“ – und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Erbhöfe – zu
gefährden. Nun gab das bislang auf dem Status quo beharrende REM den Reform-
bestrebungen des Justiz- und Innenministeriums sowie des Oberkommandos der
Wehrmacht nach. Die Erbhoffortbildungsverordnung 1943 verbesserte die Rechts-
stellung der einheiratenden Ehegatten, indem diese zu Anerben bestimmt werden
konnten und in den Gegenden, wo die Gütergemeinschaft gepflogen worden war,
„sippengebundene Ehegattenerbhöfe“ erreichtet werden konnten. Auch die Stellung
der Töchter in der Erbfolge wurde „bis auf weiteres“ verbessert, indem sie vor den
Vater und die Brüder des Erblassers rückten. Damit war die Benachteiligung der
weiblichen Familienangehörigen zwar nicht beseitigt, doch unter dem Druck, die
Rechtsgrundsätze den durch den Krieg veränderten Gegebenheiten pragmatisch an-
zupassen, gemildert.104 Zwar rüttelte die Erbhoffortbildungsverordnung nicht am
Kern des REG ;105 doch erscheint sie als vorläufiger Endpunkt einer gewissen Ent-
radikalisierung der inklusiven Bodenpolitik, die mit der gemilderten, übermäßige
Härten vermeidenden Strategie der Behörden im Zuge des Anlegungsverfahrens der
Erbhöferolle ihren Anfang genommen hatte. Gehen wir von ökonomischen Funkti-
onen, politischen Interessen und kulturellen Orientierungen als den bestimmenden
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937