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215Schollenbindung
oder Parzellenhandel ?
Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass Juliane Hopfinger ihr letztes Vertrauen
in Alois Hopfinger, der als einer der Pächter ihrer Gründe seit den 1920er Jahren
seine Pflichten gegenüber der Verpächterin wiederholt vernachlässigt hatte, verlo-
ren hatte ; sie befürchtete einen anhaltenden Streit um die ihr zustehenden Aus-
gedingeleistungen, falls er den Hof erhalten würde.250 Das Erbhofgericht Wien
und schließlich das Reichserbhofgericht wiesen die Beschwerden Alois Hopfingers
zurück. Gegenüber dessen Ansprüchen wiege die Wiederansiedelung der auf staat-
liche Anordnung hin entsiedelten Erbhofbauern schwerer, denn : „Das Blut der
alten Bauerngeschlechter des Waldviertels, die für Zwecke der Landesverteidigung
ihre Höfe aufgeben mussten, [muss] unter Ausschöpfung aller Mittel wieder mit
dem Boden verbunden werden.“251 Damit erlangte der bereits 1938 abgeschlossene
Kaufvertrag zwischen der Erbhofbesitzerin und dem ausgesiedelten Bauernehe-
paar volle Rechtsgültigkeit.
Einen ähnlich lautenden Antrag brachte Gregor Dorner, Eigentümer eines 15
Hektar umfassenden Erbhofs in Wartberg, 1942 ein. Der Hof solle aus der Erb-
höferolle gestrichen werden, weil kein „positives Wirtschaftserträgnis“ zu erzielen
sei ; damit sei die „Ackernahrung“ nicht mehr gegeben.252 Gegen dieses Ansinnen
wandte sich Leopold Karner, ein entfernter Verwandter des Hofeigentümers ; es
handle sich um einen „durchaus rentable[n] Betrieb“.253 Dahinter verbargen sich
unterschiedliche Interessen : Dorner, 74 Jahre alt, alleinstehend und ohne nahe
Verwandte, wollte – nicht zuletzt wegen wiederholter Vorwürfe wegen „mangeln-
der Wirtschaftsfähigkeit“ durch die Behörden – den Hof veräußern und hatte
begonnen, mit gerichtlicher Genehmigung einzelne Parzellen zu verkaufen.254
Karner und seine Frau, die einen anderen Erbhof in Wartberg besaßen, hatten jah-
relang auf Dorners Hof ohne angemessene Entlohnung mitgeholfen, bevor sie mit
dem Eigentümer 1938 über ihre Entschädigungsansprüche in Streit gerieten ; da-
her erhoben sie für sich selbst oder ihren Sohn Anspruch auf das Hofeigentum.255
Nach umfangreichen Erhebungen, unter anderem einem Lokalaugenschein, kam
das Gericht zum Schluss, dass – trotz gegebener „Ackernahrung“, aber infolge der
desolaten Gebäude
– die Erbhofeigenschaft mangels „Hofstelle“ nicht gegeben sei ;
damit schien es überflüssig, über die „Bauernfähigkeit“ des Eigentümers zu urtei-
len.256 Auf diese Weise erhielt Dorner, ungeachtet der Ansprüche von Karner und
dessen Familie, vom AEG grünes Licht für den Verkauf des Hofes.
Beide Gerichtsverfahren waren außergewöhnlich ; sie rechtfertigten das, wo-
gegen sich das REG im Kern richtete : Der unveräußerliche, an die „Sippe“ ge-
bundene Erbhof wurde zu Geld gemacht, an eine andere „Sippe“ verkauft. Die
beiden Fälle zeigen aber auch, unter welchen durchaus normalen Umständen solch
außergewöhnliche Transaktionen die Hürden der Erbhofgerichtsbarkeit über-
wanden. Die Eigentümerin und der Eigentümer waren aufgrund ihres hohen Al-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937