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221Wer
ist (k)ein „Bauer“ ?
gerte Resistenz gegen Anreize und Zumutungen des NS-Regimes
– und damit ein
erhöhtes Risiko, in die Mühlen der Erbhofgerichtsbarkeit zu geraten.272
Freilich können die Besonderheiten von 25 Verfahren an vier AEG nicht
einfach für die Erbhofgerichtsbarkeit im Reichsgau Niederdonau verallgemei-
nert werden ; doch wirft bereits diese kleine Zahl an Gerichtsverfahren Licht auf
ein großes Vorhaben : die Eindämmung des Widerspruchs zwischen „Blut und
Boden“-Ideologie und (Kriegs-)Ernährungswirtschaft. Überprüfungen der kriegs-
wirtschaftlich entscheidenden „Wirtschaftsfähigkeit“ lagen nicht nur zahlenmä-
ßig, sondern auch hinsichtlich des Ausschlusses der Hofeigentümer/-innen vom
Status des „Erbhofbauern“ voran. Sie erreichten 1941/42, als nach dem Angriff
auf die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Ame-
rika der „Blitzkrieg“ in den Abnützungskrieg umschlug, ein Übergewicht. Eher
bauerntumsideologisch unterlegte Verfahren zur „Ehrbarkeit“ waren nicht nur sel-
tener, sondern auch hinsichtlich ihrer Urteile inklusiver. Sie kennzeichneten die
Radikalisierungsphase 1943/44, in der die Mobilisierung gegen den „Bolschewis-
mus“ hervortrat. Die Erbhofgerichtsbarkeit zur „Bauernfähigkeit“ erfüllte allem
Anschein nach – jenseits der ideologischen Intention des REG – die Funktion
der politisch-ökonomischen Steuerung der Erbhöfe, nicht nur in Niederdonau,
sondern auch in anderen Regionen des Deutschen Reiches.273 Zwar entfaltete die
Fremdsteuerung durch die Behörden angesichts der geringen Zahl der Verfahren
nur begrenzte Wirkung. Doch verschärften die abschreckenden Urteile – bis hin
zur öffentlich kundgemachten „Abmeierung“, dem befristeten oder endgültigen
Entzug des Erbhofeigentums274 – über die bäuerliche Selbststeuerung den Druck,
der verordneten Norm des „Erbhofbauern“ in der Alltagspraxis zu entsprechen.
Kurz, der politisch-ökonomische Steuerungseffekt der Erbhofgerichtsbarkeit ba-
sierte nicht auf umfassender, sondern exemplarischer Bestrafung ; daher hielt sich
die Zahl der Verfahren gegen nicht „bauernfähige“ Erbhofeigentümer in Grenzen.
Der Raum der „Bauernfähigkeit“ beleuchtet über strukturelle Momente hinaus
auch die Praktiken der vor Gericht auftretenden Akteure. Eine Gemeinsamkeit
der unterschiedlichen Fälle war die Überlappung von gesetzlicher und alltägli-
cher Moral. Weder „Wirtschaftsfähigkeit“ noch „Ehrbarkeit“ wurden allgemein
per Gesetz definiert, sondern sollten von der Erbhofgerichtsbarkeit gemäß der
bäuerlichen „Standesehre“ den Besonderheiten des jeweiligen Falles entsprechend
beurteilt werden.275 Damit öffnete sich für die aus einem Berufsrichter und zwei
„Erbhofbauern“ als Laienrichtern zusammengesetzten AEG ein enormer Ermes-
sensspielraum in der Beurteilung der von den Verfahrensbeteiligten und ihren
Rechtsvertretern verfochtenen Moralauffassungen – eine Eigenart, die sowohl
zeitgenössische Beobachter276 als auch die historische Forschung277 immer wie-
der festgestellt haben. Mit dem Verhandlungsraum im Amtsgericht betreten wir
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937