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222 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
einen Ort, an dem die zusammenwirkenden oder auseinanderlaufenden Strate-
gien und Taktiken der Beteiligten – Antragsteller/-innen, Hofeigentümer/-innen,
Erbhofanwärter/-innen, Rechtsanwälte, Zeuginnen und Zeugen, Gutachter, Be-
rufs- und Laienrichter und so fort
– aufeinandertrafen. Die unterschiedlich mäch-
tigen Beteiligten verfochten unter Einsatz entsprechender Ressourcen wie Ver-
trauen, Expertise oder Fürsprache ihre je eigene Sicht der Dinge – und nahmen
darüber einen Standpunkt zum Anspruch auf Erbhofeigentum ein. Der juristische
Expertendiskurs der „Bauernfähigkeit“ bot diesen Auseinandersetzungen einen
Raum, der das Denken und Handeln der Kontrahenten zugleich einschränkte
und ermöglichte. In diesem Diskursraum markierten das REG, seine Erläuterun-
gen und die veröffentlichten Urteilssprüche278 verschiedene Subjektpositionen –
„Bauer“, „Anerbe“, „Ehegatte“ und so fort. Die vor Gericht auftretenden Akteure
machten sich zu Subjekten dieser Diskurse, indem sie sich darin positionierten,
das heißt mit manchen Positionen identifizierten und zu anderen in Differenz
traten.279 Dieses Wechselspiel von Positioniert-Werden und Sich-Positionieren im
Kampf um das Hofeigentum lässt sich anhand ausgewählter Fälle im Raum der
„Bauernfähigkeit“ genauer erkunden.
Die beiden zum ersten Fall gehörenden Verfahren finden sich im rechten oberen
Bereich des Raumes der „Bauernfähigkeit“. Ludwig Rothensteiner bewirtschaf-
tete in Rafing im AGB Eggenburg einen zehn Hektar großen Erbhof. 1940 be-
antragte der Reichsnährstand die „Abmeierung“ des Erbhofeigentümers sowie die
Übertragung von „Verwaltung und Nutznießung“ an dessen gleichnamigen Vater.
Der Landesbauernführer begründete diese scharfe Maßnahme mit mangelhafter
Wirtschaftsführung und unehrenhaftem Verhalten aufgrund homosexueller Nei-
gungen.280 Eine Reihe einvernommener Zeuginnen und Zeugen aus der Nachbar-
schaft belasteten Rothensteiner schwer und sprachen ihm die „Bauernfähigkeit“
ab. Demnach sei er weder gewillt noch imstande, wie ein „echter Bauer“ mit dem
Fuhrwerk die Äcker zu bearbeiten ; stattdessen widme er sich den Tätigkeiten in
Küche und Garten. Darüber hinaus unterhalte er „perverse“ Beziehungen mit ei-
nem seiner früheren Knechte, mit dem er in Briefkontakt stehe und den er wieder-
holt besucht habe.281 Der Beschuldigte entgegnete bei mündlichen Einvernahmen
und schriftlichen Eingaben seines Rechtsanwalts, er sei wegen des Fehlens weib-
licher Arbeitskräfte gezwungen, Hausarbeit zu verrichten. Zudem sei der Kontakt
mit dem früheren Knecht einzig und allein durch Verantwortungsgefühl und die
gemeinsame Jagdleidenschaft begründet.282 Offensichtlich war das Gerichtsverfah-
ren nur das Aufflammen eines schwelenden Konflikts um den Hofbesitz zwischen
dem „Bauern“ und dessen Bruder, der bei der Hofübergabe nicht zum Zug gekom-
men war. Jede der Streitparteien versuchte, Zeuginnen und Zeugen zur Bekräfti-
gung des je eigenen Standpunkts zu mobilisieren ; einige, etwa der Ortsbauern-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937