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227Wer
ist (k)ein „Bauer“ ?
sondern davon ebenso beeinflusst, wie sie darauf Einfluss nahmen.308 Der Zusam-
menhang von Vorder- und Hinterbühne umfasste erstens die Gegner und deren
Verbündete. In allen Fällen standen einander die Erbhofeigentümer/-innen und
der Kreis- oder Landesbauernführer vor Gericht gegenüber. Doch die zugrunde
liegenden Konflikte entzündeten sich zwischen Familien und Haushalten, wie
im Fall Maria Hubers und ihrer Nachbarschaft, oder innerhalb von Familien und
Haushalten, wie in den Fällen von Rosa Müller und ihrem Ehegatten, Ludwig Ro-
thensteiner und seinem Bruder sowie Leopold Schweinhammer und dem Pflicht-
jahrmädchen. Diese Konflikte brachen nicht entlang schwacher, sondern starker
Beziehungen wie Verwandtschaft, Nachbarschaft und Dienstverhältnis auf. Ob-
wohl allein der Reichsnährstand berechtigt war, Anträge zur anerbengerichtlichen
Überprüfung der „Bauernfähigkeit“ einzubringen, ging die Initiative dazu wohl
von einer der Konfliktparteien aus. So können wir annehmen, dass der Ehemann
Müllers anfänglich mit der Kreisbauernschaft im Einvernehmen stand. Die Ver-
wicklung von Orts- oder Kreisbauernführern im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens
kommt normalerweise in den Quellen nicht zur Sprache ; dies wird nur ausnahms-
weise fassbar, so etwa im Fall einer Bauerntochter, die einen familiären Konflikt an
die Kreisbauernschaft herantrug : Ihre Schwägerin mische sich immer wieder in die
Wirtschaftsführung der Bäuerin ein. Auf Gegenwehr reagiere die Schwägerin mit
einer Drohung : „Wehrt sich meine Mutter dagegen, sagt die Frau meines Bruders,
sie geht zur Kreisbauernschaft, die sind auf ihrer Seite, die sollen die Alte entfer-
nen.“309 Dieser Fall enthüllt die nicht seltene Taktik, in familiären Konflikten die
eigene Position durch Allianzen mit machtvollen Anderen zu stärken. Mitunter
machten die Streitparteien alltäglicher Konflikte auf eigensinnige Weise Gebrauch
vom Staatsapparat. Doch indem ländliche Akteure ihre Anliegen in Allianz mit
öffentlichen Autoritäten verfolgten, setzten sie sich auch der Kolonialisierung ihrer
Alltagswelt durch das politisch-ökonomische System aus.310
Zweitens schloss der Zusammenhang von Vorder- und Hinterbühne auch die
Streitgegenstände ein. In formeller Hinsicht ging es in all diesen Gerichtsverfahren
um die Klärung der „Bauernfähigkeit“ der Erbhofeigentümer/-innen. Doch dieser
Verfahrensgegenstand war meist mit informellen Streitgegenständen verbunden :
eine Geschwisterrivalität um das väterliche Erbe im ersten Fall, eine Auseinander-
setzung benachbarter Hofbesitzer/-innen um die Verfügungsrechte über Grund
und Boden im zweiten Fall, ein ehelicher Streit über männliche und weibliche
Einflusssphären im dritten Fall, ein Disput über die Rechte und Pflichten bäuer-
lich-patriarchalischer Autorität im vierten Fall. Der Fall Schweinhammer verdient
erhöhte Aufmerksamkeit : Anders als in den übrigen Fällen entbrannte hier ein
offener Streit um die bäuerliche „Standesehre“ als einem integralen Bestandteil
des REG zwischen den Kontrahenten, dem Reichsnährstand und dem AEG auf
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937