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228 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
der einen Seite sowie dem Erbhofeigentümer und seinem Anwalt auf der anderen
Seite. Jede der Streitparteien führte ihre je eigene Auffassung von „Ehrbarkeit“
im Allgemeinen und Sexualmoral im Besonderen ins Treffen. Damit standen in
diesem Verfahren nicht nur die „Bauernfähigkeit“ des Beschuldigten, sondern auch
Sinn und Zweck des REG auf dem Spiel. Nicht zuletzt aufgrund seiner Brisanz
durchlief das Verfahren alle Gerichtsinstanzen, bis das Reichserbhofgericht letzt-
endlich ein Machtwort zugunsten der offiziellen und in Ablehnung der vom Be-
schuldigten vertretenen Lesart der bäuerlichen „Standesehre“ sprach.
Eine weitere Facette der Beziehung von Vorder- und Hinterbühne stellten
drittens die Strategien und Taktiken der Akteure dar. Es fällt ins Auge, dass die
Beteiligten in allen Fällen implizit oder explizit Positionen zu Geschlechterrollen
vor Gericht geltend machten ; darüber sollte der eigene Standpunkt gestärkt und
derjenige des Gegenübers geschwächt werden. Im ersten Fall folgte der Antrag des
Reichsnährstandes auf „Abmeierung“ offenbar der Ansicht, dass die
– seltene, nach
dem REG aber durchaus rechtmäßige
– Alleineigentümerschaft der Frau am Erb-
hof unter Ausschluss des Ehemannes die Ursache der Misswirtschaft und daher
ungerechtfertigt sei. Der Hofeigentümerin wurde eine entsprechend negative Po-
sition
– verschlagen, herrschsüchtig, unbelehrbar
– zugeschrieben. Wäre nicht auch
die „Ehrhaftigkeit“ des Mannes durch ein Gutachten in Zweifel gezogen worden,
hätte das anerbengerichtliche Urteil wohl im Sinn des Antrags des Reichsnähr-
standes gelautet. Das kritische Gutachten erlaubte der Erbhofeigentümerin jedoch,
den Spieß gegen ihren Ehemann umzudrehen. Zudem begegnete sie dem Vorwurf
mangelnder „Wirtschaftsfähigkeit“ mit dem Argument des Arbeitskräftemangels.
Der zweite Fall zeigt, dass Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht
nur gegen, sondern auch für Erbhofeigentümer/-innen zum Einsatz kamen. Die
Beschuldigte begegnete dem Vorwurf mangelnder „Wirtschaftsfähigkeit“ vonsei-
ten ihrer männlichen Gegenspieler mit Ansprüchen, die im NS-System oder in
den ländlichen Alltagswelten verankerte Weiblichkeitsvorstellungen aufgriffen
und im eigenen Sinn zu nutzen suchten : Sie sei nicht in der Lage, die Anbau- und
Erntemaschinen zu bedienen ; sie habe Angst vor ausländischen Arbeitskräften auf
ihrem Hof ; sie trage als Mutter Sorge für ihren Militärdienst leistenden Sohn.
Auch wenn das Ersturteil im Sinn des Antrages lautete, wurden diese Ansprü-
che vom Gericht nicht zurückgewiesen ; vielmehr könnten sie die Aussetzung des
Verfahrens bis Kriegsende gefördert haben. Im dritten Fall bildete die ‚unmänn-
liche‘, weil mangels Frauen am Hof auf ‚weibliche‘ Arbeitsbereiche konzentrierte
Tätigkeit des „Bauern“ den Stein des Anstoßes ; zudem verstärkte der Vorwurf der
Homosexualität dessen Positionierung als „perverses“ Subjekt. Das AEG konnte
sich jedoch erst im zweiten Anlauf und nach Anhörung zahlreicher Personen zu
einer „Abmeierung“ entschließen, nachdem es in einem ersten Verfahren die „Bau-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937