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262 „Menschenökonomie“ unter Zwang
einem angesehenen Fachblatt, veröffentlicht. Trotz der Förderungsmaßnahmen
seit dem „Anschluss“
„[…] gibt es auf dem Gebiete der Landwirtschaft noch vieles zu ändern, und vor allem
müssen noch schwerste Probleme einer Lösung zugeführt werden. Dazu gehört ins-
besondere das Problem der Arbeitsüberbürdung des Bauern als Folge einer geradezu
katastrophalen Landflucht [Hervorhebung im Original]. Das natürliche Gefälle vom
Land zur Stadt ist derzeit zu einem gigantischen Sturzbach geworden und gefährdet
den Bestand unseres Bauerntums.“33
Als Ursache der „Landflucht“ diagnostizierte Reinthaller die „Unterbewertung der
Landwirtschaft“
– die Tatsache, „daß der Bauer seinen Mitarbeitern den gerechten
Lohn nicht zu geben imstande ist, geschweige denn sich selbst und seine Fami-
lie so versorgen kann, wie es heute jeder deutsche Volksgenosse in allen anderen
Ständen für selbstverständlich empfindet“. 34 Die „Unterbewertung der Landwirt-
schaft“ resultiere aus der sich öffnenden „Preisschere“ : zum einen aus den erhöhten
Aufwendungen für Landarbeiterlöhne – die im Schnitt um ein Drittel gestiegen
waren, aber dennoch den Industrielöhnen nachhinkten – und sonstige Betriebs-
ausgaben, zum anderen aus den stagnierenden Erträgen aufgrund des verordneten
Preisstopps. Als Therapie forderte er
– trotz der notwendigen Opfer des Bauern für
die Nation – nichts weniger als einen nationalen Kraftakt für das „Bauerntum“ :
„Der niedere Preis der landwirtschaftlichen Produkte, die geringen Löhne, Flächenbean-
spruchungen für Wehrzwecke usw., das alles gehört in das Kapitel : ‚Opfer des Einzelnen
zum Nutzen des Ganzen‘ und ist nötig, um die Sicherheit, den Bestand und die Fortent-
wicklung des Reiches und Volkes zu gewährleisten. Der Nationalsozialismus hat aber er-
kannt und diese Erkenntnis klar herausgestellt, daß das Bauerntum das kostbarste
Gut des Volkes ist und daß sich die Landwirtschaft nicht so behandeln läßt wie an-
dere Wirtschaftszweige. Hier geht es nicht um die Rationalisierung, sondern um die
Erhaltung des Menschen ! Deshalb wird es ebenso vornehmste Pflicht sein, rechtzeitig
eine Wende in der heutigen Entwicklung der Landwirtschaft herbeizuführen [Hervorhe-
bungen im Original].“35
Dass Reinthaller die „Landflucht“ öffentlich dermaßen nachdrücklich themati-
sierte, folgte unter anderem aus seiner Position als Landwirtschaftsminister im
„Lande Österreich“ innerhalb des polykratischen Machtgefüges : Einerseits setzte
er sich mit seinem Gefolge aus politischen Amtsträgern, wissenschaftlichen Ex-
perten und publizistischen Wortführern seit dem „Anschluss“ als Schutzpatron
der ostmärkischen Landwirtschaft in Szene.36 Andererseits war sein Abgang von
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937