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265Die
Steuerung der „Landflucht“
schienen die Erhöhung der Erzeugerpreise, die Absenkung der Sozial- und Steu-
erlasten sowie die Auszahlung eines Frachtkostenausgleichs notwendig. Danach
folgten Maßnahmen, die der „Landflucht“ der familienfremden Arbeitskräfte ent-
gegen steuerten : die Verbesserung der Wohn- und Wirtschaftsgebäude, der Ein-
satz arbeitssparender Maschinen, die Ergänzung des Barlohnes durch einen De-
putatanteil, die Verbesserung der Heirats- und Aufstiegschancen, die Zuweisung
von Land, etwa aus dem „ehemals jüdischem Mittel- und Großbesitz“ im östlichen
Niederdonau, an bestehende Klein- und zu schaffende Neubauernhöfe, den Einsatz
nicht in der Landwirtschaft tätiger Inländer/-innen und, soweit notwendig, aus-
ländischer Wanderarbeiter/-innen, die Regelung der Arbeitszeiten, fachliche und
politische Schulungen. In den Glauben an die Steuerbarkeit der „Menschenöko-
nomie“ mischte sich im Zeithorizont zur Jahresmitte 1939, am Vorabend des sich
abzeichnenden Krieges, aber auch Skepsis ; denn die Realisierung der skizzierten
Ideallösung des Landfluchtproblems sei nicht von heute auf morgen zu erwarten :
„Der donauländische Bauer ist sich der überragenden Bedeutung seines Standes im
Rahmen des Volksganzen wohl bewußt. Er ist auch bereit, die ihm zugedachten Auf-
gaben nach besten Kräften zu erfüllen. Wenn er dabei heute auch noch schwere Opfer
bringen muß, so beseelt ihn die Hoffnung, daß er mit seiner Familie nach erfolgter
Lösung der großen staatspolitischen Probleme des Reiches einer besseren Zukunft
entgegengeht, zu deren Bau er mit der Urkraft seines Wesens beigetragen hat.“45
Die Widersprüchlichkeit von Löhrs Problemlösungsansatz zeigt sich an den Maß-
nahmen zur sozialen Sicherheit der Landbevölkerung : Einerseits betonte er die
drückenden Soziallasten für die Selbstständigen ; andererseits sah er in der man-
gelnden Absicherung der Unselbstständigen eine Triebfeder der „Landflucht“. Die
sozial- und zugleich rassenpolitischen Neuerungen des NS-Regimes nach dem
„Anschluss“, die auch die Abwanderung aus Land- und Forstwirtschaft einzu-
dämmen helfen sollten, erweckten auf dem Land gemischte Gefühle. Die Aus-
dehnung der Versicherungspflicht auf die Unfallversicherung der Selbstständigen
und die Invaliden- und Altersversicherung der Unselbstständigen empfanden die
bäuerlichen Betriebsinhaber/-innen wegen erhöhter Beitragszahlungen kurzfristig
als Nachteil ; die Vorteile sollten sich erst längerfristig erweisen. Auf ungeteilte
Zustimmung stießen demgegenüber staatliche Sozialleistungen wie Ehestands-
darlehen, Kinderbeihilfe und Wohnbauförderungen, die der Landbevölkerung teils
als zinsenlose Darlehen, teils als nicht rückzahlbare Zuschüsse gewährt wurden.
Doch der vermehrten Kaufkraft der ländlichen Sozialleistungsempfänger/-innen
stand ein im Zuge der Kriegswirtschaft immer stärker eingeschränktes Konsum-
güterangebot gegenüber.46 So erscheint es zweifelhaft, dass das „sozialpolitische
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937