Seite - 267 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 267 -
Text der Seite - 267 -
267Die
Steuerung der „Landflucht“
und Erscheinungsformen, sondern auch Folgen und Lösungsansätze. Von den Fol-
gen betroffen seien zunächst die bäuerlichen Familien, insbesondere die Frauen,
die Landarbeit als „lebenslange Schufterei“ empfänden ; zudem werde die „Land-
gesinnung“ der verbleibenden familienfremden Arbeitskräfte geschwächt ; schließ-
lich bestehe aufgrund des Arbeitskräftemangels die Gefahr der Extensivierung der
Betriebe. Während die Experten bei der Problemdiagnose weitgehend Einigkeit
zeigen, fächern sich die Argumente bei der Therapie auf. Teils werden kurz- bis
mittelfristige, an den Folgen ansetzende Lösungen erörtert : der Einsatz in- und
ausländischer Hilfskräfte als „Notlösung“, die forcierte Mechanisierung auf ge-
nossenschaftlicher Basis oder die Pflege und Stärkung der „Landgesinnung“. Teils
entwerfen die Experten, der radikalen (sozial-)technokratischen Linie Meyers fol-
gend, mittel- bis langfristige Lösungen, die an den Ursachen, den mangelnden
Aufstiegsmöglichkeit von ledigem Gesinde sowie arbeiter- und kleinbäuerlichen
Familien, ansetzen : „Diese naturgemäß erstrebenswerte ‚Aufstiegsmöglichkeit‘ ist
aber im Wesentlichen eine Frage des verfügbaren Bodens, eine Frage des Lebensraumes
[Hervorhebung im Original].“ Erst die Eroberung neuen „Lebensraumes“ im Osten
im Krieg ermögliche die Grundaufstockung klein- und mittelbäuerlicher Famili-
enbetriebe durch Zusammenlegungen und, in weiterer Folge, die Schaffung hof-
gebundener, mit Kleingrund- und Hausbesitz ausgestatteter Landarbeiterfamilien
gemäß der Heuerlingsverfassung im „Altreich“ ; zudem erhielten alle Übrigen –
„der junge, aufstrebende nachgeborene Bauernsohn oder der junge Landarbeiter,
der sich vor die Berufswahl gestellt sah“ – die Möglichkeit zur Ostsiedlung.53
Damit liefert die Entschlüsselung des Raumforschungsdiskurses eine bemer-
kenswerte Erkenntnis : Die Lösung der Landfluchtfrage wurde als Teil einer um-
fassenden „Bereinigung“ der Agrarstruktur im „Altreich“ und der Germanisierung
der eroberten Ostgebiete begriffen.54 Dieses autoritär-moderne Megaprojekt55
diente letztlich der Existenzsicherung eines Fundaments „rassisch“ und ökono-
misch leistungsfähigen „Bauerntums“ – „lebensstarke[r] Höfe von hinreichend
biologischer und technisch produktiver Entfaltungskraft“56 – in der nicht bloß
hingenommenen, sondern als gestaltbar akzeptierten Industriegesellschaft : „Das
deutsche Volk ist nämlich noch spannkräftig und wandlungsfähig genug […], nach
dem Plan der industriellen Selbstversorgung noch einen entsprechenden Plan für
die Verbreiterung und Erneuerung des bäuerlichen Fundamentes zur Ausführung
zu bringen.“57 Die Agrargesellschaft als „Fundament“ und die Industriegesellschaft
als deren „Gerüst“ erschienen nicht als unversöhnliche Gegensätze, sondern als
einander ergänzende Teile eines organischen Ganzen : „Fundament und Gerüst
gehören zusammen ; arbeitsmäßig gesehen sind beides Bereiche ständig steigen-
der Arbeitsentfaltung, somit ständig steigenden Arbeitsbedarfs.“58 Dementspre-
chend wertete das (sozial-)technokratische Planungsdenken der Agrarexperten
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937