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268 „Menschenökonomie“ unter Zwang
um Meyer die „Land-(wirtschafts-)flucht“ von einem agrarromantisch gerahmten
Bedrohungsszenario um zu einer „durchaus notwendig gewordene[n] Umgrup-
pierung innerhalb des nationalen Arbeitshaushalts“,59 einer „Umschichtung des
Bevölkerungsgefüges“60 oder einem „Stellungswechsel“ entsprechend den „Wand-
lungsprozessen sowohl der Struktur der Industrie wie der Landwirtschaft“61
– mit-
hin zu einem unumgänglichen Schritt auf dem Weg Deutschlands in eine alterna-
tive Moderne jenseits von Liberalismus und Sozialismus.62
Wie verhielt sich die teils ideokratische, teils technokratische Rede von der
„Landflucht“ zur zahlenmäßig fassbaren Abwanderung von Landarbeitskräften in
Niederdonau 1938/39 ? Die Ergebnisse der ministeriellen „Landflucht“-Erhebung
in der Landesbauernschaft Donauland diente amtsintern wie öffentlich als Bestä-
tigung der „Landflucht-Psychose“ ; aber sie erfasste nur einen schmalen zeitlichen
und räumlichen Ausschnitt der Abwanderung. Für eine Gesamtschau auf die Zeit
zwischen „Anschluss“ und Kriegsbeginn auf dem Gebiet Niederdonaus müssen wir
die amtliche Statistik zu Rate ziehen. Doch bereits zeitgenössische Bevölkerungs-
statistiker erörterten die Schwächen der amtlichen Wanderungsstatistik ; so gaben
die Volkszählungsergebnisse keine Auskunft über die Ab- und Zuwanderung der
land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung in den Kreisen und Gemeinden.63
Immerhin verfügen wir auf Kreisebene über amtliche Kennzahlen, die eine An-
näherung an die Migrationsbewegungen erlauben : die Wanderungsbilanz und die
wirtschaftliche Zugehörigkeit der Wohnbevölkerung auf Basis der Volkszählungen
vom März 1934 und Mai 1939 als Maßzahlen der regionalen und sektoralen Mo-
bilität (Abbildung 4.1).
Entsprechend der Brisanz des Landfluchtproblems erschienen bereits 1940 wis-
senschaftliche Kommentare über die Ergebnisse der Volkszählung 1939 zur regio-
nalen und sektoralen Mobilität. Oskar Gelinek, Referent im Statistischen Amt für
die Reichsgaue der Ostmark, zeichnete in seinem Fachzeitschriftenartikel über die
Wanderungsbilanzen der Wohnbevölkerung 1934 bis 1939 ein dramatisches Bild
der Landflucht an der südöstlichen Reichsgrenze, zumal er, seiner nationalsozialisti-
schen Weltsicht folgend,64 neben den ökonomischen vor allem auf die „völkischen“
und „rassischen“ Aspekte abhob : „Zur unmittelbaren nationalen Gefahr wird die
Landflucht in Grenzgebieten, neben denen fremde Völker mit einem höheren Be-
völkerungsüberschuß wohnen […].“65 Zwar führte er die Wanderungsverluste in
den ehemals südmährischen Kreisen und in Wien auf positive Sonderentwicklun-
gen zurück : „Die starke Abwanderung der Juden und Tschechen aus Wien und
den Grenzgebieten von Niederdonau stellt einen völkischen Reinigungsprozeß
als Folge der Wiedervereinigung dar.“66 Im Allgemeinen kommentierte er die
„Landflucht“ aus den agrarisch geprägten Kreisen, vor allem den Grenzkreisen,
äußerst negativ. Als Paradebeispiel diente ihm der Kreis Oberpullendorf, in dem
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937