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270 „Menschenökonomie“ unter Zwang
ideelle Missstände
– das Ausufern des liberalistischen Egoismus sowie den Mangel
an „rassischem“ und „völkischem“ Gemeinsinn – zurück. Als Folge malte er die
existenzielle Gefährdung des „Landvolkes“ – und damit des „deutschen Volkes“
insgesamt – an die Wand :
„Fassen wir die politische Bedeutung der Landflucht für den von ihr betroffenen Staat
zusammen, so erkennen wir sie als eine Krankheitserscheinung im Wachstum eines
Volkes. Ihre Folgen sind : eine rassische Schwächung des Staatsvolkes, die nationale
Gefährdung im Grenzland, eine ungesunde Verteilung im Raum, die Entwurzelung
des Landvolkes, die Verminderung der Schicht der sozial Selbständigen, die Schwä-
chung der Landwirtschaft, die Verringerung der Nahrungsfreiheit, womit die Siche-
rung der Nation und die Freiheit des Staates gefährdet wird. In weltanschaulicher Hin-
sicht aber hat die Landflucht eine Entfremdung von den natürlichen Grundlagen des
Lebens, von Blut und Boden des Volkes zur Folge und eine weitere Hinwendung zu
einseitigem Intellektualismus, von dem sie ihrerseits auch wieder bedingt ist [Hervor-
hebungen im Original].“67
Folglich plädierte Gelinek für die Schaffung eines „rasse- und volksbewußten Men-
schenschlages“ im Zuge der „ländlichen Neuordnung“ ; durch die Ansiedlung „über-
schüssiger“ Landbewohner/-innen aus dem Reichsgebiet in den eroberten Ostgebie-
ten solle die „Bindung an Blut und Boden“ gestärkt werden.68 Obwohl der Autor das
Fehlen der Kreisergebnisse über die Zugehörigkeit der Bevölkerung zu den Wirt-
schaftszweigen betonte, setzte er die in den Wanderungsbilanzen ablesbare „Land-
flucht“ stillschweigend mit der Abwanderung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte
gleich – ohne dies für die einzelnen Kreise zahlenmäßig belegen zu können.69
Entsprechende Belege verarbeitete hingegen ein Artikel über die Wandlungen
in der wirtschaftlichen Struktur der Bevölkerung der Ostmarkgaue, der ein halbes Jahr
danach in derselben Fachzeitschrift erschien. In nüchternem Ton, weitgehend frei
von nazistischer Rhetorik entwarf Richard Grabner ein anderes Bild der Migrati-
onsbewegungen 1934 bis 1939 :
„Im Reichsgau Niederdonau hat bei einer Bevölkerungsabnahme von 3 v.H. die land-
wirtschaftliche Bevölkerung nicht nur relativ, sondern auch absolut zugenommen, die
Industriebevölkerung dagegen abgenommen. In 18 von 24 Landkreisen dieses Gaues
ist die Zahl der landwirtschaftlichen Bevölkerung entweder unverändert geblieben
oder sogar gegenüber 1934 gestiegen. Die Gesamtbevölkerung dieser Kreise hat dem-
nach zwischen 1934 und 1939 auf Kosten der nicht-landwirtschaftlichen Bevölke-
rung abgenommen. Offenbar sind hier Teile der industriellen (d. h. nicht agrarischen)
Bevölkerung abgewandert.“70
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937